Westwind aus Kasachstan
starrte seine Mutter an, der Pinsel fiel aus seiner Hand, und einen Augenblick war er sprachlos.
»Ein schönes, warmes Gelb«, lobte Erna. »Hast du etwas Ocker zugemischt?«
»Mama –«
»Ja?«
»Wie siehst du denn aus?«
»Wie soll ich aussehen?«
»Bist du verrückt geworden?! Wer hat das gemacht?«
»Ludwig Viktorowitsch, wer sonst?«
»Ich drehe ihm den Hals um!«
»Warum denn?«
»Guck doch mal in einen Spiegel! Du bist nicht mehr du! Du bist nicht mehr meine Mutter. Du siehst aus wie ein Revuegirl! Was wird Vater sagen?!«
»Für ihn habe ich es doch getan. Hermann hat mich auf den Gedanken gebracht.«
Gottlieb klammerte sich an der Leiter fest. »Hermann!« schrie er. »Hermann, Mutter ist da! Komm her!«
Hermann unterbrach das Schuttschaufeln und kam ins Haus. Erna sah ihm gespannt entgegen. Zuerst stutzte er, aber dann rief er:
»Mama, du siehst fabelhaft aus! Zwanzig Jahre jünger! Dir glaubt keiner die fünfundfünfzig. Was sagst du dazu, Gottlieb?«
»Ich möchte dir in den Hintern treten, jetzt sofort. Ist das noch Mama?«
»Verjüngt. Ich könnte mich in sie verlieben. Was hast du zu meckern, Brüderchen? Wenn sie so durch Moskau geht, laufen ihr alle Männer nach.«
»Und Vater liegt steif im Bett, ein Fleischklumpen mit einem Kopf drauf. Glaubst du, es freut ihn, wenn Mama immer jünger wird und er immer elender? Jedesmal, wenn er Mama sehen wird, ist es eine Ohrfeige für ihn, wird ihm wieder vorgeführt, wie nutzlos er da herumliegt.«
»Gottlieb hat recht«, sagte Erna. Ihre Stimme war so klein wie damals, als sie die Wahrheit über Wolferls Zustand erfahren hatte. »Es war gut gemeint.«
Sie ging ins Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich. »Komm von der Leiter!« knirschte Hermann. Gottlieb schüttelte den Kopf.
»Warum? Die Wand muß fertig werden.«
»Komm freiwillig, oder ich hole dich runter!« Hermann trat an die Leiter und rüttelte sie. Oben hielt sich Gottlieb an der Wand fest.
»Soll ich mir das Genick brechen?« rief er. »Laß das, Hermann.«
»Wenn du nicht runterkommst, brichst du dir das Genick!«
»Haben wir mit einem Querschnittgelähmten nicht genug?«
Von draußen kam Iwetta Petrowna herein, erfaßte sofort die Situation und riß Hermann von der Leiter fort. »Mein Schatz«, sagte sie mit ihrer warmen Stimme. »Reg dich nicht auf. Was auch ist, man kann doch darüber sprechen.« Hermann wurde ruhiger. Iwettas Nähe, ihre Stimme, ihre Anschmiegsamkeit und Schönheit verzauberten ihn jedesmal. Sie hatte eine große Macht über ihn, die sie, wenn nötig, klug einsetzte. Auch jetzt wirkten ihre Worte und ihr warmer Ton.
»Wir reden noch miteinander«, sagte er zu Gottlieb hinauf. »Du hast Mama sehr weh getan.«
»Und du hast einen Popanz aus ihr gemacht! Mama als Kapitalistenmäuschen!«
»Hör auf mit deinen dämlichen Parteiparolen! Das ist überholt. Das ist leeres Stroh von gestern.«
»Die Partei ist stärker als je zuvor!«
»Idiot! Trottel!«
»Pfui!« sagte Iwetta und zog Hermann aus dem Haus.
»Verzeih, mein Liebling.« Er küßte sie auf die von Staub gepuderten Lippen. »Aber einmal muß es heraus. Gottlieb ist ein Problem. Wie ein Schizophrener ist er mal so, mal anders. Er hat geweint, als er Vater im Krankenhaus sah, aber draußen hat er dann gesagt: ›Der Alte ist es selbst schuld. Was brauchte er nach Ust-Kamenogorsk zu fahren?‹ Ich hätte ihn da zusammenschlagen können, aber Mutter war dabei.«
Sie arbeiteten bis tief in die Nacht, und das Haus war sauber und wie neu. Die Nachbarn waren am Abend gekommen und hatten Blumen gebracht, Gebäck und eingelegtes Obst, der Theaterverein brachte eine lange Blumengirlande, die jetzt über der Tür hing. Ein Schild wurde angebracht: Herzlich willkommen, Wolfgang Antonowitsch. Im einzigen Wirtshaus des Dorfes übte die Blasmusikkapelle deutsche Märsche, die Weberowsky so sehr liebte, vor allem den Reitermarsch des alten Dessauer. Der Kranke würde begeistert sein.
Erna hatte das Make-up abgewaschen, nur die Frisur war nicht mehr zu ändern, den neuen Schnitt konnte man nicht rückgängig machen.
»Das ist ein Kompromiß, den ich gelten lasse«, meinte Gottlieb zufrieden. »Gegen die Frisur habe ich nichts. Sie steht dir wirklich fabelhaft. Nur Lidstrich, Schminke, Puder, Lidschatten, knallrote Lippen – Mama, das ist nichts für dich. So wie du bist, bist du sowieso die schönste Frau im ganzen Bezirk.« Er blickte hinüber zu Hermann, der mit Iwetta am anderen Ende des
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