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Westwind aus Kasachstan

Westwind aus Kasachstan

Titel: Westwind aus Kasachstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Anissimow mit plötzlicher Angst an. »Das ist doch nicht normal.«
    »Es hängt mit den Nerven zusammen«, erklärte Anissimow ausweichend. Und er sagte damit noch nicht einmal die Unwahrheit. Es waren ja wirklich die Nerven, nur waren sie zerrissen. »Alles muß seine Zeit haben. Nerven sind das Empfindlichste, was wir im Körper haben. Sie dürfen nicht ungeduldig werden, Wolfgang Antonowitsch.«
    Weberowsky gab sich zunächst mit dieser Vertröstung zufrieden. Aber er grübelte nach, versuchte, die Arme zu heben, wollte das Tuch, das seinen Körper bedeckte, etwas tiefer treten, versuchte, die Beine zu bewegen, bemühte sich, im Bett höher zu rücken und sich aufzurichten … es bewegte sich nichts. Sein Körper gehorchte nicht mehr seinem Willen. Er blieb unbeweglich.
    Aber er fragte Dr. Anissimow nicht mehr. Er wurde wortkarg, ließ sich von Schwester Larissa, einer hübschen Kasachin mit langen, schwarzen Haaren und feurigen Augen, füttern wie ein Säugling, und in seinem zerknitterten Gesicht vertieften sich die Falten.
    In der sechsten Woche, als Frantzenow wieder an seinem Bett saß und ihm berichtete, daß das Ministerium in Moskau ihn beurlaubt hatte, trotz eines Protestes von Nurgai, fragte Weberowsky ihn:
    »Andrej, bist du ehrlich gegen mich?«
    »Ich habe dich noch nie belogen, Schwager.«
    »Du bist beurlaubt worden, weil du geschrieben hast, du müßtest mich pflegen.«
    Frantzenow nickte. »Ja, Wolfgang. Ich will Erna dabei helfen. Sie fühlt sich stark genug, aber ich glaube nicht, daß sie es durchhält.«
    »Du weißt es, Andrej. Ich höre es aus deinen Worten. Sag mir die Wahrheit! Ich kann die Arme nicht bewegen, die Beine nicht, den ganzen Körper nicht … bin ich querschnittgelähmt?«
    Frantzenow atmete tief durch. Nun ist es soweit. Wie gut, daß ich ihm es sagen muß und nicht Erna. Er beugte sich vor, legte seine Hand auf Weberowskys rechte Wange und küßte ihn auf die linke.
    »Ja.«
    Weberowsky schloß die Augen. Frantzenow streichelte sein Gesicht, seine Hand zitterte dabei. Es waren die schrecklichsten Minuten seines Lebens. Als Weberowsky die Augen wieder aufschlug, lag keine Panik, keine Angst, keine Verzweiflung in ihnen.
    »Weiß Erna es?« fragte er leise.
    »Ja.«
    »Wie … wie hat sie es aufgenommen?«
    »Tapfer. Sehr tapfer. Sie baut jetzt euer Haus um. Breitere Türen, ein Durchbruch zum Garten. Kiwrin hat aus Karaganda ein Spezialbett herangeschafft, mit dem man dich überall hinrollen kann; Hermann hat an allen Türen Sensoren angebracht, die eine Tür automatisch öffnen, wenn du dich ihr näherst. Er ist dafür extra nach Kiew geflogen, wo eine Spezialfabrik diese Sensoren herstellt, und Eva hat einen Kochkurs in Karaganda mitgemacht und wird zur Diätköchin ausgebildet. Ja, und Gottlieb, es ist nicht zu fassen, versorgt den Hof, pflügt die Äcker um, sät die Saat aus, als habe er nie etwas anderes getan. Du kannst stolz auf deine Kinder sein. Und du hast eine Frau, vor der man den Hut ziehen kann. Alle warten auf dich.«
    »Ich werde nie wieder laufen können?« fragte Weberowsky und starrte an die Decke.
    »Nein, Schwager.«
    »Mich nie mehr hinsetzen können?«
    »Nein.«
    »Ich muß für immer im Bett liegen?«
    »Ja.«
    »Ich werde nie mehr einen Traktor fahren?«
    »Nie mehr.«
    »Nie mehr reiten?«
    »Das macht die Welt nicht aus.«
    »Ich bleibe für immer ein Krüppel?«
    »So darfst du das nicht nennen. Das ist ein böses Wort.«
    »Ich bin ein sechzigjähriger Säugling, der trockengelegt, gewickelt und gefüttert wird – Andrej!«
    Es sollte ein Hilfeschrei sein, aber er erstickte in einem Gurgeln. Frantzenow umklammerte Weberowskys Kopf. Das ist der Schock, durchfuhr es ihn und ließ ihn frieren. Gott, laß ihn darüber hinwegkommen. Laß ihn leben!
    Und dann sah er, wie sich aus den geschlossenen Lidern zwei dicke Tropfen lösten und über die eingefallenen Wangen liefen, und wie noch weitere Tropfen hervorquollen und in einer Faltenrinne zum Kinn flossen.
    Weberowsky weinte … lautlos, starr und sein Schicksal begreifend.
    Nach acht Wochen Intensivstation entschied Dr. Anissimow, daß Weberowsky nach Hause gebracht werden konnte. Er untersuchte ihn noch einmal gründlich, prüfte die Reflexe an Beinen und Rumpf, obwohl er wußte, daß es keine mehr gab. Er stach Nadeln in die Beine, den Oberschenkel, den Leib, in den Bauch … Weberowskys Körper reagierte nicht mehr, er spürte keinerlei Schmerz mehr, die Nerven waren durchtrennt. Man hätte

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