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Westwind aus Kasachstan

Westwind aus Kasachstan

Titel: Westwind aus Kasachstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Das hatte sie ihm nach Moskau geschrieben. Aber dann brach plötzlich der Briefverkehr ab, ohne Grund. Und Bitterkeit war in ihm hochgestiegen: Auch Weberowsky ist einer von diesen fanatischen Deutschen. Er hat ihr das Schreiben verboten! Erna, Schwesterchen, nun sind wir wirklich getrennt.
    Einen Augenblick dachte er daran, ihr nach Nowo Grodnow einen Brief zu schicken, aber dann verwarf er die Absicht wieder. Aus Kirenskija ging kein Brief hinaus und kam keiner hinein. Diese Stadt gab es ja nicht. Eigentlich sind wir lebendig Begrabene, vergessene Tote, dachte er. Er kam der Wahrheit sehr nahe, denn er ahnte ja nicht, daß er bereits seit neun Jahren für die Öffentlichkeit gestorben und begraben war und daß es sogar Fotos von seiner Beerdigung gab. Sie verstaubten in den Archiven von TASS und anderen Pressediensten.
    Wie gerädert stand er am Morgen auf, duschte sich kalt, um die Müdigkeit zu vertreiben, aß kaum etwas zum Frühstück und ging hinüber in sein Institut. Aber er konnte sich an diesem Tag nicht auf die Arbeit konzentrieren. Immer wieder drehten sich seine Gedanken um den geradezu unglaublichen Plan, die Deutschstämmigen nach Deutschland hinauszulassen oder an der Wolga anzusiedeln, ganz wie sie mochten. Würde es eine Völkerwanderung von zwei Millionen Menschen geben? Eine Wanderung ins Ungewisse. Denn wo hatte man Platz und Arbeit im ohnehin schon übervölkerten Deutschland? War ein Leben in Baracken oder Notunterkünften mehr wert als ein schöner Bauernhof, eine Werkstatt, eine sichere Anstellung … nur um in Deutschland zu sein, das keiner der Aussiedler kannte. Aus Bildern und Erzählungen hatten sie sich ein Deutschlandbild gemalt. Einem irdischen Paradies gleich im Vergleich zu dem harten Leben in Kasachstan. Nur, wenn man das Bild umdrehte, starrte einen eine leere Fläche an. Aber wer dreht schon ein schönes, lockendes, glückverheißendes Bild um?
    Ist denn niemand da, der ihnen die andere Seite der Medaille zeigt?
    Andrej Valentinowitsch saß an diesem Tag oft irgendwo herum, statt zu arbeiten. Am Abend dann, nach einigen Kognaks aus Georgien, schrieb er in sein präzise geführtes Tagebuch:
    »Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Bin ich ein Deutscher, oder bin ich ein Russe? Ich finde keine Antwort mehr darauf. Ich bin wie ein im Wind schwankendes Rohr. Ein verdammtes Gefühl …!«
    Die Versammlung der Dorfbewohner fand dieses Mal in der Kirche statt und nicht in der Stolowaja, dem Versammlungsraum, der gleichzeitig auch Theatersaal, Kino, Turnhalle und – bei schlechtem Wetter und im Winter – Festsaal war. Die Kirche ist jetzt der richtige Ort, hatte Weberowsky gedacht. So können wir gleich beten und für Gottes Güte danken.
    Die Dorfbewohner waren fast vollzählig gekommen, sogar ihre Kinder hatten sie mitgebracht. Es gab keinen freien Platz mehr in der Kirche, die letzten standen vor der Tür, aber sie wußten, daß Weberowsky laut genug sprach, um ihn auch auf der Straße noch zu hören. Nur zwei fehlten. Hermann war zu seiner Verlobten Iwetta Petrowna Jublonskaja gefahren, und Gottlieb traf sich mit seiner heimlichen Liebe Natalja Alexandrowna Antrachanjewa in einem kleinen Wald, der vor vierzig Jahren gepflanzt worden war.
    »Was soll ich mir das alles anhören?« hatte er störrisch zu seinem Vater gesagt. »Mein Entschluß steht fest, ich bleibe! Ich werde Medizin studieren. Kann ich das in Deutschland? Bezahlt mir dort auch der Staat das Studium? Es gibt für mich keinen Grund auszuwandern. Und überhaupt, was du in der Kirche sagen wirst, kotzt mich sowieso an.«
    Weberowsky hatte die Fäuste geballt und es hinuntergeschluckt. Gottlieb war zu alt, um ihn noch zu verprügeln, und es wäre ein Drama geworden, wenn er zurückgeschlagen hätte. Im Zorn kannte Weberowsky keine Grenzen, und wenn dieser blinde Zorn über ihn kam, rannte er hinter das Haus in die vordere Scheune und hackte wie ein Besessener Holz.
    »Was ist los?« fragte Peter Georgowitsch Heinrichinsky, der Pfarrer, als ihn Weberowsky bat, die Kirche als Versammlungssaal zur Verfügung zu stellen.
    »Warte es ab«, antwortete Weberowsky. »Es geht um uns alle.«
    Nun standen oder saßen die Leute von Nowo Grodnow im Kirchenraum und warteten auf die Überraschung. Weil man ihn von dort am besten hören konnte, war Weberowsky auf die Kanzel gestiegen. Er atmete tief durch, blickte über die Köpfe der Bauern, die zu ihm hinaufstarrten und warteten.
    »Machen wir es kurz«, sagte Weberowsky mit seiner

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