Westwind aus Kasachstan
lauten Stimme. »Gestern war Kiwrin bei mir auf dem Feld.« Kiwrin kannte jeder, da brauchte man keine Erklärungen. Was also wollte Kiwrin von Wolfgang Antonowitsch?
»Er hat mir eine noch geheime Neuigkeit mitgeteilt, die uns alle betrifft. In den nächsten Tagen soll sie veröffentlicht werden. Wir Rußlanddeutschen sollen frei entscheiden können, ob wir hier in Kasachstan bleiben wollen oder zurückkehren in die Heimat unserer Väter, zurück an die Wolga oder …«, er machte eine kleine Pause, »… ob wir nach Deutschland umsiedeln …«
Schweigen. Hunderte ungläubige Blicke. Eine erdrückende Stille. In ihr klang wie ein Kanonenschlag die Stimme des Pfarrers: »Mein Gott!«
»Das ist eigentlich alles.« Weberowskys Stimme klang heiser vor Erregung. »Deutschland steht für uns offen. Die Entscheidung muß jeder für sich selbst fällen. Für mich kann ich sagen: Ich entscheide mich für Deutschland! Es war unser aller Sehnsucht. Jetzt wird der Traum Wirklichkeit. Mehr habe ich nicht zu sagen.«
Noch immer Stille, und in sie hinein die Stimme des Pfarrers: »Lasset uns singen: ›Bis hierher hat uns Gott geführt …‹, und dann lasset uns beten und Gott danken.«
Die Bauern von Nowo Grodnow sangen und beteten und gingen dann still zu ihren Häusern. Weberowsky blieb noch in der Kirche und setzte sich neben den Pfarrer vor den vom Dorfschreiner gezimmerten Altar. Die große Altardecke aus Klöppelspitze war ein Geschenk der Frauen.
»Verstehst du das, Peter?« fragte Weberowsky. »Sie schweigen. Sie jubeln nicht, sie liegen sich nicht in den Armen, sie tanzen nicht vor Freude … und dabei haben wir seit Generationen auf diesen Tag gewartet.«
»Es ist alles so plötzlich gekommen. Wie ein Blitz, der sie traf und lähmte. Morgen, du wirst sehen, ist alles anders. Da werden sie jubeln. Plötzlich hat sich die Welt verändert. Das muß erst verdaut werden.«
Peter Georgowitsch hatte recht: Am nächsten Tag war Nowo Grodnow nicht mehr das alte Dorf. Es zerfiel in drei Teile: Die einen wollten zurück an die Wolga, ein anderer Teil klammerte sich an Nowo Grodnow fest und wollte es nie verlassen, und der geringste Teil stimmte zu, ein neues Leben in Deutschland zu beginnen.
»Ich verstehe das nicht«, meinte Weberowsky am Abend des folgenden Tages zu Pfarrer Heinrichinsky. Er war fassungslos. Die Dorfgemeinschaft brach über Nacht auseinander. »Wir alle denken doch an Deutschland.«
»Der Mensch ist ein kompliziertes Wesen, Wolfgang«, antwortete der Pfarrer nachdenklich. »Die Tatsachen sehen anders aus als die Sehnsüchte. Und außerdem wissen wir nur von dir über die Moskauer Pläne.«
»Kiwrin lügt nicht. Warum sollte er das?«
»Warten wir den Wortlaut aus Moskau ab, und lesen wir erst einmal die Bestimmungen. Irgendeinen Haken haben sie bestimmt hineingeschrieben. Man läßt nicht einfach an die zwei Millionen fleißige Bürger ziehen. Etwas ist schief an dieser Moskauer Güte. Die ersten Anzeichen haben wir bereits: Nowo Grodnow ist gespalten.«
»Der Riß geht auch schon durch meine Familie. Hermann und Gottlieb wollen in Kasachstan bleiben.«
»Von Hermann verstehe ich das nicht, von Gottlieb habe ich nichts anderes erwartet. Er ist gegen alles! Er will eine Welt, von der selbst er nicht weiß, wie sie aussehen soll – nur anders als die jetzige. Und was sagt Eva?«
»Sie wird mitgehen. Als Schneiderin hat sie in Deutschland keine Not. Auch Hermann als Ingenieur würde eine Anstellung bekommen. Ihn hält allein Iwetta Petrowna fest. Sie ist seine ganz große Liebe.«
»Wir können jetzt nichts tun als abwarten, Wolfgang.«
»Tausende sind mit Übersiedlungsanträgen nach Deutschland ausgereist, schon als es noch schwierig war, bis zu den deutschen Konsulaten vorzudringen.«
»Und was hört man von ihnen?«
»Sie haben sich eingelebt. Sie schreiben: Es ist wie im Märchen. Du gehst in ein Kaufhaus und stehst vor Hunderten von Kleidern und Anzügen, Hemden und Schuhen, so viel, daß dir der Kopf brummt. Und alle Geschäfte sind voll der besten Waren. Niemand muß anstehen für ein Pfund Fleisch oder ein Paar gefütterte Handschuhe. Du gehst in das Geschäft und bekommst, was du willst. Wer kann sich das bei uns vorstellen? So schreiben sie, die schon drüben sind. Ich halte jeden für einen Idioten, der noch in Kasachstan bleiben will.«
»Viele sind zufrieden mit dem, was sie haben.«
»Und der versteckte Haß, der uns entgegenschlägt? Die heimliche Feindschaft, die wir überall
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