Westwind aus Kasachstan
an einen Kasachen geraten konnte. Sein Gesicht schien dem seiner Mutter zu gleichen; vom Vater hatte er nur die leicht geschlitzten Augen und die schwarzglänzenden Haare geerbt, die ihn jünger erscheinen ließen, als er tatsächlich war. Seine Gestalt war stämmig, muskulös und sah nach Leistungssport aus. Tatsache war, daß Nurgai nie Sport betrieben hatte. »Wozu«, hatte er einmal gesagt, »soll ich 100 Meter in 11 Sekunden laufen oder am Reck herumschwingen? Was bringt mir das außer Muskelkater?« So blieb seine Bandscheibe gesund wie bei einem Jüngling, und darauf war er stolz.
Nurgai hob sein Glas und prostete Frantzenow zu. » Pojechali «, sagte er dabei, und das war besser als das ›Na sdorowje ‹. Pojechali ist der kürzeste und beste Trinkspruch der Welt und bedeutet ›Abfahrt!‹ Sinnvoller geht es nicht. Die meisten Russen prosten deshalb mit Pojechali .
Sie stießen die Gläser aneinander, tranken einen langen Schluck, ließen den Wein in der Kehle nachwirken, ehe Nurgai wieder das Wort ergriff.
»Andrej Valentinowitsch, Sie kennen sicherlich das Sprichwort von den drei Glückseligkeiten«, sagte Nurgai und lehnte sich zurück.
»Ich bedauere – nein, Kusma Borisowitsch.«
»Dann hören Sie zu: Willst du eine Minute lang glücklich sein, dann trinke ein Gläschen armenischen Kognak. Willst du eine Stunde lang glücklich sein, dann trinke ein Glas russischen Wodka. Willst du aber dein ganzes Leben lang glücklich sein, dann mußt du gute Freunde haben. Lassen Sie uns unter diesem weisen Spruch zusammensein. Einverstanden?«
»Ich habe viele Freunde«, erwiderte Frantzenow ausweichend.
»Kameraden, nicht Freunde. Eine Freundschaft unter Männern, eine echte Freundschaft überdauert alle Krisen des Lebens. So sehe ich es jetzt, jetzt in diesen Stunden, Andrej Valentinowitsch. Sie werden mich sofort verstehen und Ihren erstaunten Blick zurücknehmen, wenn ich Ihnen erzähle, was Sie und mich unmittelbar betrifft. Ich war vier Tage in Moskau –«
»Ich weiß, Kusma.«
»Ich hatte Gelegenheit, mit Gorbatschow selbst zu sprechen und ihm einen kurzen Bericht über Kirenskija zu geben. Gelobt hat er uns alle und sich bedankt, indem er mir einen neuen, geradezu unfaßbaren Gedanken seiner neuen Politik verriet. Er wird ihn in Kürze öffentlich bekanntgeben. Sie staunen?«
»Voller Spannung bin ich.«
»Eine gute und eine schlechte Nachricht, mein Freund. Beginnen wir mit der bösen Nachricht. Gorbatschows Dreistufenplan für eine atomwaffenfreie Welt bis zum Jahr 2000 und sein am 8.12.1987 unterzeichneter INF-Vertrag über die Abschaffung der nuklearen Mittelstreckenraketen, den US-Präsident Ronald Reagan als seinen Sieg interpretierte, greift nun auch auf Kasachstan über: Kirenskija verliert seine Anonymität. Amerikanische Beobachter kommen in die Stadt.«
»Das ist unmöglich!« rief Frantzenow entsetzt. »So weit kann Gorbatschow nicht gehen!«
»Sie sehen, er nimmt Glasnost wörtlich: Offenheit. Wann die Amerikaner eingeflogen werden, weiß ich nicht. Sicher ist auf jeden Fall: Wir Phantome werden wieder Menschen. Und eine große Anzahl Atomwissenschaftler wird arbeitslos. Sie natürlich nicht. Auf Sie kann niemand verzichten. Atomforschung dient ja auch dem Frieden, Andrej Valentinowitsch.«
»Ich begreife es trotzdem nicht. Glauben Sie, die USA geben aufgrund dieses Vertrages ihre geheimsten Forschungsstätten bekannt und führen dort Russen herum?«
»Ich bezweifle das wie Sie.« Nurgai beugte sich vor. »Sie sagten ›Russen‹. Damit sind wir bei der guten Nachricht. Sie sind doch Deutscher?«
»Nein. Ich bin Russe, wie Generationen vor mir.« Frantzenow wurde wieder vorsichtig. Was sollte diese unsinnige Frage?
»Aber Sie sind deutschstämmig, Andrej.«
»Meine Vorfahren wurden von der Zarin Katharina II. an der Wolga angesiedelt. Wenn Sie das meinen … das ist mehr als zweihundert Jahre her.«
»Die sogenannten Wolgadeutschen, die heute größtenteils in neuen Dörfern in Kasachstan leben, haben ihr Deutschtum nie aufgegeben oder geleugnet. Sie tragen ihre Trachten, singen deutsche Volkslieder – ich mag sie übrigens sehr –, haben deutsche Schulen und geben eine eigene deutsche Zeitung heraus. Über zwei Millionen Deutsche, die amtlich als Russen gelten! Wie ist das mit Ihnen, Andrej Valentinowitsch? Als was fühlen Sie sich?«
»Als Russe! Ich bin in Rußland aufgewachsen, Rußland hat mich studieren lassen, alles, was ich bin, bin ich durch Rußland. Daß ich
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