Westwind aus Kasachstan
schon fünf Millionen Ausländer in Deutschland, und täglich kommen Hunderte in die Sammellager und verlangen Asyl. Was wollt ihr denn da noch? Ihr würdet das Land überschwemmen, und keiner weiß, wohin mit euch!«
»Das ist nicht wahr«, sagte Weberowsky plötzlich mit leiser, etwas zitternder Stimme. »Du willst mich nur unsicher machen.«
»Fahr nach Alma-Ata und erkundige dich bei deinem Konsulat.«
»Ich werde mich an die wenden, die es besser wissen … an unsere Allunionsgesellschaft der Sowjetdeutschen-Wiedergeburt in Ust-Kamenogorsk. Dort wird man mir anderes sagen, als ich von dir höre.«
»Ja.« Kiwrin nickte. »Sie werden dir sagen: Nicht ungeduldig werden, guter Mann. Nichts überstürzen. Überlegen, was man tut. Wenn du nach Deutschland willst, dann mußt du dich hinten anstellen. Die Reihe vor dir ist lang, bisher liegen schon 300.000 Anträge vor, das muß eine Behörde erst verdauen. Wir können auch nichts tun, als immer wieder bei der deutschen Botschaft zu intervenieren oder Briefe nach Bonn zu schreiben. Weiß man, wo die Briefe hinkommen? Wer sie liest?« Kiwrin legte seine Hand über Weberowskys geballte Faust. »Das und nichts anderes werden sie dir in Ust-Kamenogorsk sagen. Sie wissen ja selbst nicht, wie alle Pläne wirklich durchgeführt werden können. Das einzige, was sie aus Deutschland hören, sind freundliche, aber leere Worte. Jede taube Nuß hat mehr Inhalt als diese Reden.«
»Du versuchst alles, mich von einer Ausreise abzuhalten.«
»Weil du mein Freund bist. Woher seid ihr eigentlich gekommen?«
»Aus der Gegend von Maulbach, im Hessischen. Ein Johann Friedrich Weber wanderte 1769 nach Rußland aus und erhielt von der Zarin Katharina II. gutes Land auf der Krim. Er kultivierte ein paar brachliegende Hügel und pflanzte Wein an. Ein Enkel, Friedrich Nepomuk Weber, hörte von der Zukunft an der Wolga und verließ die Krim 1799, drei Jahre nach dem Tod der Zarin. Er verehrte fanatisch die Zarenfamilie von Alexander I. und ließ es zu, daß man den Namen Weber ins Russische eingliederte. Seitdem heißen wir Weberowsky.«
»Seit 1799 seid ihr also Russen.«
»Seit 1802, nachdem Zar Paul I. der Sohn von Katharina, bei einer Palastrevolte ermordet wurde.«
»Was machen die drei Jährchen aus. Da leben nun die nach Rußland ausgewanderten Hungerleider zweihundert Jahre auf der Krim, an der Wolga, in Sibirien oder Kasachstan und sind Deutsche geblieben, und dabei war eure sogenannte Heimat froh, daß ihr fortgezogen seid, so wie sie jetzt froh wäre, wenn ihr nicht wieder zurückkommen würdet. Aber euch zieht es in dieses Deutschland, wie ein Magnet Nägel an sich zieht. Hast du hier nicht ein schönes, ein reiches Dorf, Wolfgang Antonowitsch?«
»Wir werden viele Rubel für unsere Häuser bekommen. Ich weiß von einem Bauern bei Gorkunowo, der hat seinen Hof für 25.000 Rubel verkauft. An einen Russen, der bisher unter Kasachen wohnte und sich nach Glasnost nicht mehr sicher fühlte. Wir können unsere Dörfer an die Russen für viele Millionen Rubel verkaufen …«
»Und was macht ihr mit den Rubeln in Deutschland?«
»Sie sind der Grundstock für einen Neuanfang.«
»Sie werden im Feuer des westlichen Hochmuts verbrennen! Eine Tragödie wird's werden.«
»Fast jede Familie hat zwei oder drei Tragödien über sich ergehen lassen, eine vierte wollen sie nicht mehr hinnehmen. Wenn Rußland jetzt auseinanderbricht, wenn sich Widerstand rührt, wenn die plötzlich freien Sowjetstaaten zu Gegnern Moskaus werden, wenn hier in Kasachstan oder Usbekistan oder Turkmenien die Völker gegen den Machtanspruch des Kreml revoltieren … wer wird immer schuld sein? Die kleinen Völker und besonders die Deutschen! Wir waren immer der Sand im Getriebe der Weltpolitik. Das ist jetzt vorbei! Wir wollen Freiheit, Ruhe, ein Leben ohne Angst, durch unsere Arbeit erzeugten Wohlstand, und deshalb verlassen wir Rußland.«
»Ich kann dich nicht halten, Wolfgang Antonowitsch«, erwiderte Kiwrin. Seine Stimme klang traurig, und es war ein echter Kummer, den er in sich fühlte. »Deine Kinder sind klüger. Sie bleiben.«
»Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.« Weberowsky ging zur Tür. »Auch nicht bei den Antragsformularen. Ich verspreche dir: Ich bringe für das ganze Dorf die Anträge mit.«
»Versprich es nicht –« Kiwrin winkte ab. »Du hast es mit deutschen Beamten zu tun, und die sind nicht anders als unsere russischen. Vor allem, wenn sie ein bißchen Macht in den
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