Westwind aus Kasachstan
einen westeuropäischen Staat arbeiten. Zum Beispiel Frankreich.«
»Warum?«
»Weil sie dich hier fertigmachen werden!« schrie Weberowsky. »Weil du hier immer ein Gefangener bleiben wirst. Und das weißt du!«
»Ich kann Rußland nicht verlassen«, sagte Frantzenow. Ein Ton von Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit. »Ich kann es nicht.«
»Nenn mir einen Grund.«
»Er ist ganz simpel. Ich käme um vor Heimweh.«
»Heimweh nach einem Gefängnis?«
»Weißt du nicht, was Heimweh ist?«
»Nein.«
»Mir würde in Deutschland oder in Frankreich oder in England oder sonstwo der Himmel fehlen, dieser ungeheure herrliche Himmel über Kasachstan, diese Weite, wo Erde und Himmel miteinander verschmelzen, wo wir aufgehen in die blaue Unendlichkeit und wo wir demütig werden vor dieser Schönheit. Was kann das ersetzen?«
»Du redest von Weite und arbeitest in unterirdischen Betonburgen. Das ist doch kein Argument, das ist doch verrückt!«
Frantzenow sprang auf und wanderte unruhig im Zimmer hin und her. Vom Fenster bis zur Wand mit dem Einschußloch, rund um den Tisch, quer durch den Raum. Plötzlich blieb er vor dem Loch in der Wand stehen und starrte es an. Weberowsky hatte es als völlig harmlos betrachtet. Da hat ein Bild an einem Haken gehangen, hatte er gedacht. Nun ist der Haken herausgezogen. Man sollte ein wenig Gips anrühren und das Loch zuschmieren.
»Wenn ich um politisches Asyl bitte, kann ich nie mehr nach Rußland zurück.«
»Das ist nicht wahr. Auch Solschenizyn und Kopelew können wieder einreisen.«
»Sie sind unter anderen Umständen ins Ausland gegangen. Sie haben eine Diktatur verlassen, ein unfreies Land. Ich aber verlasse ein Land, das sich umgestaltet, das sich im Aufbruch in eine neue Zeit befindet. Ich würde Jelzin verlassen, der mich braucht. Ich habe keine Gründe, in den Westen zu flüchten wie Solschenizyn oder Kopelew. Ich werde nicht verfolgt, verboten, verachtet. Wir haben wieder eine Freiheit.«
»Rußland war nie ein freies Land, seit tausend Jahren nicht. Ob Zar oder Sowjetbonzen, das Volk spürte immer die Faust im Nacken! Weißt du überhaupt, was Freiheit ist?«
»Weißt du es?«
»Nein … deshalb will ich ja nach Deutschland.«
»Gibt es überhaupt ein freies Land?«
»Ja. Die Schweiz, Österreich … und Deutschland. Frankreich und England. Andrej, du weißt es ganz genau, besser als ich, aber du wehrst dich dagegen.«
»Man wollte mich ermorden«, sagte Frantzenow plötzlich. Er ging zwei Schritte nach vorn und legte den Zeigefinger auf das Einschußloch.
»Was wollte man?« Weberowsky fuhr von seinem Stuhl hoch. »Dich ermorden?!«
»Mit einem Kopfschuß. Hier ist der Einschlag.«
»Wer?«
»Der KGB.«
»Und da zögerst du auch nur eine Sekunde, dieses Land zu verlassen?«
»Wenn ich bleibe, lebe ich sicherer. Sie werden mich jagen, rund um die Welt. Sie haben Sonderkommandos für diese Kopfjagd. Die früheren Dissidenten waren für Rußland verhältnismäßig harmlos. Schriftsteller, Poeten, Musiker. Sie erzeugten nur einen harmlosen Wirbel in den Medien des Westens. Aber in mir ist das Wissen von über fünfzig Jahren Atomforschung, ich bin gefährlicher als ein gestohlener Sprengkopf, denn ich habe mitgeholfen, diesen Sprengkopf zu konstruieren. Ich muß in Rußland leben.«
»Und du glaubst wirklich, der KGB läßt dich in Ruhe?«
»Nein. Er wird mich und meine Arbeit beobachten.«
»Und das nennst du Leben?«
»Ich kann es nicht ändern. Ich bin verdammt dazu.«
»Nein! Es ist etwas anderes, was dich festhält.«
»Und was?«
»Die Feigheit. Du bist zu feige, das allein ist es. Du hast Angst.«
»Ich kann nicht über meinen Schatten springen.«
»Selbst einen Schatten hast du nicht mehr! Der große Professor Frantzenow – ein Nichts!«
Frantzenow zog seinen Zeigefinger von dem Einschußloch weg, ging zum Tisch und trank mit einem Schluck sein Glas leer. »Mag sein, daß du recht hast«, erwiderte er. Weberowsky fiel auf, daß er mit schwerer Zunge redete, so, als sei sie halb gelähmt. »Gib mir noch etwas Zeit …«
»Ich glaube, du hast nicht mehr viel Zeit, Andrej. Denk an die Kugel, die dort in der Wand steckt.« Weberowsky kam zu seinem Schwager und legte ihm den Arm um die Schulter. »Ich kann dir nachempfinden, wie schwer es für dich ist, aber zögere nicht zu lange. Flieg nach Moskau, angeblich um mit Minister Michailow zu sprechen, und suche Schutz in der deutschen Botschaft. Ich werde auch nach Moskau fliegen und dort
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