Westwind aus Kasachstan
1983er«, sagte er dabei. »Ein Sonnenjahrgang. Nur für besondere Gelegenheiten. Ich habe ein paar Flaschen aufgehoben. Heute ist so ein Tag: Ich habe meine Familie wieder.«
»Ich denke, du bist Russe?« Weberowsky blickte in das Glas mit dem honiggelben Wein. »Wir sind Deutsche.«
»Der Abstammung nach. Aber 1763, als unsere Urahnen auswanderten, die deutsche Goldgräberzeit, als jeder sein Glück im Osten suchte, ist lang vergangen. Jetzt wollt ihr rückwärts laufen und in der alten Heimat nach Gold suchen. Aber auch das neue Deutschland ist kein Eldorado! Warum hat euch Katharina II. nach Rußland gelockt? Nicht, weil sie eine deutsche Prinzessin war, sondern um euch die Dreckarbeit machen zu lassen, aus Schlammfeldern und verkommenem Land, aus Unkraut und saurem Boden fruchtbare Erde zu zaubern. Das haben unsere Vorväter geschafft, und ihr habt es auch in Kasachstan geschafft. Ihr seid doch mehr Russen als Deutsche!«
Weberowsky schwieg und sah seinen Schwager verbissen an. Als Frantzenow sein Glas hob und ihm zuprostete, rührte er seinen Wein nicht an. Andrej hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen.
»Böse?« fragte Frantzenow.
»Ich wundere mich, wie sehr du dich verändert hast. Als du noch in Moskau warst, bist du zweimal im Jahr nach Nowo Grodnow gekommen. Zum Frühlingsfest und zum Erntedankfest. Du hast unsere alte Tracht getragen, du hast unsere Tänze mitgetanzt, du hast in der Kirche unsere alten Lieder mitgesungen und unter der Linde gesessen und unseren nach alter Tradition gekelterten Obstwein getrunken. Du warst immer einer von uns. War das alles nur gespielt? Ein Bauerntheater? Du hast nicht als Russe unsere Volkslieder gesungen, sondern als Deutscher. Ist das alles nicht mehr wahr?«
»Die gute alte Zeit … unsere Jugend. Was ist dann in all den kommenden Jahren geschehen?«
»Du bist eine Berühmtheit geworden und schämst dich jetzt, daß du deutsche Vorfahren hast. Wenn das Erna hören könnte. Ich kann es ihr gar nicht erzählen. Was hat denn dein ›Vaterland Rußland‹ mit dir getan? Es hat dich sterben und begraben lassen, hat dich einfach weggenommen aus deiner Welt und versteckt in einer Stadt, die nichts anderes war als ein Luxusstraflager. Nein, ihr seid nicht in Gitterkäfigen zur Arbeit gefahren worden wie die Sträflinge in den sibirischen Lagern, man hat euch nur in modernste Labors eingeschlossen, um dem Tod immer neue Waffen zu liefern. Und während ihr geglaubt habt, besondere Menschen zu sein, wart ihr nichts anderes als Arbeitstiere an marmornen Krippen. Jetzt erst gehen euch die Augen auf. Ein kleiner Hund und eine kleine Katze brauchen nur wenige Wochen, um aus ihrer Blindheit herauszuwachsen; ihr, die Krone der Schöpfung, seid Jahrzehnte blind geblieben und könnt auch heute noch nicht klar sehen.«
»Bravo!« Frantzenow hob wieder sein Glas. »So lange habe ich dich noch nie reden hören. Bist du fertig mit deiner Bergpredigt?«
»Im Augenblick – ja.«
»Du trinkst nicht mit mir?«
»Wäre ich wie du, müßte ich sagen: nein! Es ist russischer Wein! Ich bin Deutscher, ich trinke nur Mosel, Pfälzer oder unseren Rheinhessen, da, woher wir stammen. Aber ich bin nicht so stur.« Weberowsky hob nun doch sein Glas. »Was ist? Ein Russe trinkt nie ohne Trinkspruch.«
»Es lebe die Einigkeit und die Harmonie unter den Menschen!« sagte Frantzenow ernst.
»Und ich antworte: Es lebe die Vernunft, den richtigen Weg zu gehen!«
Sie tranken und schwiegen eine Weile, als habe man alles gesagt und hätte nun keine Gedanken mehr.
»Ich habe eine Idee«, fuhr Weberowsky endlich fort. »Du kommst mit uns nach Deutschland.«
»Wolfgang …« Frantzenow sah seinen Schwager tadelnd an und schüttelte den Kopf. »Fang nicht wieder an! Selbst wenn ich wollte, man wird mich nie weglassen.«
»Darfst du nach Moskau fliegen?«
»Ich habe Nurgai nicht gefragt. Aber nach Moskau, das wird möglich sein. Warum?«
»Du könntest nach Moskau fliegen, um mit dem Atomminister Michailow über deine Zukunft zu sprechen. Das ist glaubhaft.«
»Natürlich. Aber warum soll ich seinen Entscheidungen vorgreifen?«
»Du verstehst mich nicht, Andrej.« Weberowsky beugte sich über den Tisch vor. »Es geht darum, daß du ungehindert nach Moskau fliegen kannst. Bist du in Moskau, ist es leicht, in die deutsche Botschaft zu gehen und um politisches Asyl zu bitten. Du wirst sofort weiter nach Deutschland gebracht werden.«
»Und was soll ich da?«
»Du könntest für
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