Westwind aus Kasachstan
angefeindet wegen unseres Fleißes. Ist das alles an dir vorbeigegangen?«
»Ich sehe dein Ziel, Vater.« Gottlieb stand mit einem Ruck auf. »Du willst nach Deutschland!«
»Wir sitzen hier zusammen, um darüber zu beraten. Morgen spreche ich in der Kirche zur Dorfgemeinschaft.«
»Und Pastor Heinrichinsky wird beten: Herr, wir danken Dir! – Was geht bloß in euren Köpfen vor?! Vater, was erwartest du von Deutschland? Das Paradies?«
»Gottlieb!« Weberowsky ließ seine Faust auf den Tischknallen. »Ich habe immer gedacht, ich könnte mit meiner Familie vernünftig reden. Machen wir es kurz, ich erwarte eure Meinungen bis morgen mittag. Wer sagt ja und wer sagt nein? Hermann –«
»Nein, Vater.«
»Eva –«
»Nein, Vater.«
»Gottlieb?«
»Meine Antwort kennst du.«
»Mutter?«
»Ja.« Es klang leise. Ein Hauch von ihren Lippen. »Ich … ich habe vor Gott geschworen, immer bei dir zu sein. Aber … ich habe auch meine Kinder, unsere Kinder …«
»Ich sehe: Meine Familie ist nicht mehr geschlossen wie eine Faust.« Weberowsky stieß den schweren Tisch von sich und hieb wieder mit der Faust auf die Platte. Es dröhnte, so gewaltig war der Schlag. »Aber ich habe eine Faust …«
Er verließ das Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
In der Nacht war es wie in den jungen Jahren ihrer Ehe. Erna kroch im Bett hinüber zu Wolfgang, schmiegte sich an ihn, legte den Kopf auf seine Schulter, und er zog sie noch dichter an sich und küßte sie auf die Augen. Wer hätte Weberowsky solche Zärtlichkeiten zugetraut, und wenn er auch tagsüber und über Jahrzehnte hinweg der Bär war, der seine Gefühle in der breiten Brust behielt, ab und zu drehte er sich im Bett zu Erna herum, streichelte ihre Schultern, das Gesicht, den Hals und ihre üppigen Brüste und sagte: »Gute Nacht, Erna. Heute war wieder ein guter Tag.« Damit war viel ausgedrückt. Den kleinen Satz: ›Ich liebe dich‹ hatte er nur einmal gesagt, als er sie fragte, ob sie seine Frau werden wolle. Von da ab sprach er nicht mehr von Liebe … er gab sie ihr. Und sie war glücklich in seiner Wortlosigkeit und in seinen Armen.
In dieser Nacht küßte sie wieder seine Brust und spürte wie als junges Mädchen das sinnliche Kribbeln in ihrem Blut, wenn sie mit ihren Lippen an seiner dichten Behaarung zupfte.
»Willst du wirklich nach Deutschland?« fragte sie.
»Davon haben wir jahrzehntelang geträumt, hast du gesagt, als ich euch die Neuigkeit erzählte. Und dann hast du geweint, als wären Fesseln, die du ein halbes Jahrhundert getragen hast, von dir abgefallen. Und jetzt fragst du –«
»Es kam so plötzlich, Wolferl. Wie ein Schock war es. Plötzlich hat sich die Welt verändert.«
»Ich habe es an meinen Kindern gesehen.«
»Du mußt sie verstehen. Auch ihnen kam es zu plötzlich. Sie fühlen sich als Russen und Deutsche.«
»Sie sind Deutsche! Wir sind es geblieben seit der Zarin Katharina II. Wir haben an der Wolga nie russisch gedacht oder gefühlt. Warum tragen wir an Festtagen noch immer unsere Trachten, warum singen wir unsere Volkslieder, warum sprechen wir deutsch, wird in den Schulen Deutsch gelehrt, und warum geben wir eine eigene deutsche Zeitung heraus? Weil wir Deutsche sind! Ich bin stolz darauf!«
»Glaubst du, in Deutschland haben sie Land für uns? Wir sind Bauern, Wolferl, wie du sagst, seit Katharina II.«
»In Ostdeutschland soll es noch immer große Landflächen geben.«
»Aber kein Land, das dem Staat gehört und das er verteilen kann. Es ist alles Privatbesitz … das weißt du doch. Wo sollen sie Land für uns hernehmen?«
»Wenn die Heimat uns heimholt, wird sie auch für uns sorgen«, erwiderte Weberowsky zuversichtlich. »Nicht alle von uns sind Bauern … viele sind Handwerker, Arbeiter, Spezialisten, Angestellte. Zwei Millionen seien deutschstämmig, sagt Kiwrin. Nur ein geringer Teil von ihnen sind Bauern wie wir.«
»Glaubst du, unser Nowo Grodnow kann auch in Deutschland wieder ein Dorf sein?«
»Ich weiß es nicht.« Weberowsky zog seine Frau an sich. Er spürte ihren weichen, üppigen Körper, und ihn überflutete die Lust, sich auf ihn zu legen und ihn nach langer Zeit wieder zu besitzen. Solche Augenblicke werden seltener, wenn man abends von der harten Feldarbeit zurückkommt und die Erschöpfung bis in die Knochen spürt, wenn man zu Abend gegessen hat und im Sessel lehnt, um endlich die Tageszeitung Neues Leben zu lesen. Da sehnt man sich nur nach seinem Bett und nach Ruhe. Die Nächte
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