Westwind aus Kasachstan
sind kurz – zwischen fünf und halb sechs in der Früh müssen die Ställe ausgemistet werden, die vier Kühe werden gemolken, dann werden sie und die Schweine gefüttert, und dann ist es auch schon Zeit, die Wiesen zu mähen, um frisches Grünfutter einzuholen oder wie jetzt die Kornfelder mit dem Mähdrescher abzufahren und die gepreßten Strohballen zu den Scheunen zu bringen. So geht es, mit einer kleinen Pause, weiter bis gegen acht Uhr abends, wo wieder die Ställe ausgemistet, die Kühe gemolken und das Vieh gefüttert werden. Und dann ist der Tag herum, und schon beim Lesen der Zeitung ergreift einen die Müdigkeit. Schlafen, schlafen, nur ein paar Stunden. Um halb sechs brüllen die Kühe …
Tag um Tag, Jahr um Jahr immer das gleiche.
Die Stunden der Zärtlichkeit werden so selten wie ein Sommerregen in der Steppe von Kasachstan.
»Ich glaube nicht, daß man ein ganzes Dorf wie unser Dorf umsiedeln kann. Wir werden sicherlich verteilt werden.«
»Auseinandergerissen nach fünfzig Jahren! Das erträgst du nie, Wolferl! Nowo Grodnow ist das Dorf deines Vaters und dein Dorf! Hier haben wir unser ganzes Leben hineingesteckt. Ist dieses unbekannte Deutschland für dich so wichtig?«
»Seit wir hier in Kasachstan sind, werden wir angefeindet. Man hat unsere Arbeit behindert, wo man nur konnte, aber wir haben nicht aufgegeben. Jetzt haßt man uns, weil wir die schönsten Dörfer, die besten Felder und Wiesen, das gesündeste Vieh und den ertragreichsten Gemüseanbau haben. Denk nur an Semjon Bogdanowitsch Zirupa. Wenn er könnte, würde er Nowo Grodnow abbrennen, um wieder Alleinherrscher mit seiner Sowchose ›Bruderschaft‹ zu sein, damit es keine Vergleiche mehr im Plansoll gibt. Wir waren nie frei! Nicht nur die Regierung in Alma-Ata, auch Moskau hat uns dauernd getreten wie einen lästigen Hund. Hast du das vergessen, Mutter? jetzt ist der Westen für uns offen. Wir können in die Freiheit ziehen!«
»Was ist Freiheit, Wolferl?«
»Siehst du, du weißt nicht, was das ist! Entsetzlich ist das, wenn ein Mensch fragen muß: Was ist Freiheit?!« Weberowsky zog Ernas Kopf noch weiter auf seine Schulter und streichelte ihren Körper. Durch das Nachthemd aus dünnem Leinen spürte er ihre warme Haut und die fraulichen Rundungen. »Freiheit ist –«, sagte er und fand seine feste Stimme wieder, »wenn ich einen neuen Pflug brauche und kann ihn überall kaufen und sofort mitnehmen, ohne ein halbes Jahr oder noch länger auf eine ›Zuteilung‹ zu warten. Und Freiheit ist, wenn ich über meine Ernten selbst verfügen kann und sie nicht an einer Zentralstelle abliefern muß.« Er küßte Erna auf Stirn und Augen und rückte von ihr weg. »Laß uns jetzt schlafen«, bat er sanft. »Klarheit werden wir erst in den nächsten Wochen bekommen.«
Er drehte sich auf die Seite und schloß die Augen, aber schlafen konnte er nicht. In dieser Nacht lag Weberowsky wach, und viele Gedanken füllten seine Schlaflosigkeit aus.
Irgendwie hat Erna recht, dachte er. Es wird vieles zusammenbrechen und auseinandergehen. Die Dorfgemeinschaft, Freundschaften, die ein ganzes Leben lang gehalten haben, die eigene Familie … und die Gräber werden, wenn die Kasachen die verlassenen deutschen Dörfer übernehmen, wie damals 1941 an der Wolga, als Stalin die Rußlanddeutschen nach Zentralasien und Sibirien deportierte, flachgewalzt werden. Die neue, mit größten Opfern aufgebaute Heimat würde es nicht mehr geben. Heimat – da ist es wieder, dieses mysteriöse Wort! Wo haben wir unsere Heimat?
Weberowsky drehte sich im Bett unruhig hin und her. Wenn er auf der rechten Seite lag, blickte er seine Frau an; sie schlief auf dem Rücken, die Hände über der Brust gefaltet, wie aufgebahrt sah sie aus.
Er erschrak bei diesem Anblick, als wäre es eine Mahnung: Euer Leben ist nur noch kurz. Du bist sechzig, Erna ist fünfundfünfzig. Wieviel Zeit bleibt uns noch? Zeit genug, um zum dritten Mal ein neues Leben anzufangen im fernen Deutschland? Diesem fremden Land, aus dem die Urväter stammen, dem man mehr als zweihundert Jahre lang die Treue gehalten hatte, weil es von Generation zu Generation weitergegeben wurde: Hört, das sind unsere Lieder. Seht, das sind unsere Trachten. Kommt, tanzen wir unsere alten Volkstänze, verlernen wir nicht unsere Sprache, auch wenn wir jetzt russisch reden müssen. Vergiß nie, woher du stammst. Der Mensch ist wirklich ein wundersames Wesen! Aber sind wir nicht alle so? Ein Russe im fremden Land wird
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