When the Music's Over
Stabilisierung, nicht weil er es brachte. Große Hoffnung, das Ziel seiner Reise zu erreichen, hatte er allerdings nicht.
Allmählich kehrten Docs Gedanken in die Gegenwart zurück. Er sah nicht mehr auf eine scheinbar endlose Wasserfläche – in der Ferne zeichnete sich ein Stück Land ab. Das musste wohl Freezone, sein ursprüngliches Reiseziel, sein. Seltsam, wie sich manche Dinge fügten. Er sah auf das Ruder, das wie von Geisterhand bewegt wurde. Der Autopilot, erinnerte er sich. Dann fiel sein Blick auf die Datumsanzeige in der Instrumentenkonsole – heute war der Jahrestag des Voyager-Abschusses. Vielleicht war das ein gutes Omen. Was hatte er schon zu verlieren?
Der Reisende
Chaos verleiht Anonymität – ein gutes Mantra für einen Reisenden, fand Draco. Er reiste viel, und er liebte es, unerkannt zu bleiben. Chaos verleiht Anonymität. Jeder hastet durch die Straßen, hat etwas zu verbergen, sucht seinen Vorteil, hat Angst. Angst war wie eine aromatische Beigabe, er liebte ihren Duft. So wenige Dinge verströmten heutzutage einen angenehmen Duft, dachte er. Nein, eigentlich müsste es anregend heißen. Angst regte ihn an, versüßte seine Nächte.
Draco war nicht sein richtiger Name, doch er hatte den richtigen Klang, und darauf kam es im Leben an, dass die Dinge richtig schmeckten, rochen und klangen.
Vor einer Woche war er noch durch die Ruinen Londons geschlichen, hatte das Schattenspiel von Mondlicht und Nachtschwärze genossen. Doch London war unergiebig gewesen. Die Angst war hier zu einer Konstante im Bewusstsein der Überlebenden geworden. Sie schmeckte fad. Draco fühlte sich betrogen. Er war mit so viel Hoffnung in die Stadt gekommen und fand nichts weiter als den banalen Kampf ums Überleben vor.
Wie sollte da noch Raum bleiben für die delikaten Schwingungen echter Todesangst?
Er erinnerte sich noch genau an den Augenblick, als aus der Faszination Sucht geworden war, als er zum ersten Mal die herbe Süße menschlichen Blutes auf den Lippen geschmeckt hatte.
Dreihundertsiebzig schreiende, brennende Körper. Wie hysterisch zuckende Wajang-Puppen tanzten sie vor den brennenden Trümmern des Airbus. Explodierendes Kerosin spritzte auf die Verletzten, brannte sich in die Wunden. Es war großartig, Charles Manson, Oliver Stone und Francis Bacon waren auferstanden und schufen hier ihr Meisterwerk. Und er – er war ihr begieriger Schüler geworden.
Zwei Triebwerke waren beim Anflug auf Saigon ausgefallen. Der Pilot hatte eine Notlandung versucht und dabei den Bug der Maschine in ein Reisfeld geschraubt. Welch eine Poesie lag in dem Anblick. Draco stand in stummer Bewunderung und starrte auf das Tableau. Die Löschfahrzeuge bewegten sich wie unter Wasser, wurden Teil des Todesballetts. Die Schreie und das Geräusch berstenden Metalls vereinten sich zu der Symphonie, nach der sie alle tanzten.
Er schaltete das Kehlkopfmikro an und versuchte seine Empfindungen in Worte zu fassen. Doch die Worte, die er brauchte – sie waren noch nicht erfunden worden. Das würde er später tun – sie würden Teil der Legende werden.
Die junge Frau kam aus der Rauchwand auf ihn zugetaumelt. Ihr brennender Hochzeits-Sarong umwehte sie wie ein tödlicher Nebel. Sie fiel genau vor seinen Füßen in den Schlamm. Er beugte sich zu ihr, senkte den Kopf und küsste ihren blutenden Mund. Er war der Rote Tod, und er saugte das letzte bisschen Leben aus ihr und es schmeckte so unvergleichlich bitter und süß.
Er schnitt den Beitrag noch mit dem Geruch von Feuer und Blut auf seinen Lippen. Er schnitt ihn hart und rhythmisch und legte den neuesten Hit der Masters of Pain darunter. Über Satellit wurden die Bilder noch in der gleichen Stunde in die Wohnzimmer der Lieben daheim gestrahlt. Der Sender feuerte ihn noch in der gleichen Nacht. Doch ebenfalls noch in der gleichen Nacht rief der Manager von Masters of Pain bei ihm an. Die Jungs hatten seinen Beitrag gesehen und fanden seinen Stil total geil. Ob er ihr nächstes Video machen wollte?
Er wollte. Die Masters waren eine völlig kranke Truppe, und so fuhr er mit ihnen ins kranke London. Sein Video zu »Twisting Zombies« gewann den MTV-Music-Award. Und er war auf einmal scheißberühmt.
Es war kurz danach, dass er beschloss, Hannibal Lecters würdiger Vertreter im Land der lebenden Toten zu werden. Er musste nur noch seinen eigenen Stil finden und vervollkommnen.
Seit einigen Tagen war er wieder unterwegs. Er war mit Hover nach Hamburg gekommen, hatte einige
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