When the Music's Over
Geschäftemachen. Man musste nur ständig damit rechnen, ein Messer in den Rücken zu kriegen. Pierce liebte die atemlose Hektik und flüsternde Paranoia, die in den künstlichen Gassen zwischen den Pontons und den Hausbooten herrschte.
Nach der Trennung von den Runners – von Blue, verbesserte er sich in Gedanken – hatte er sich ein Hausboot gekauft. Es hatte früher einem Ölprinzen gehört, der sich mit einer Überdosis Greff ins Nirwana befördert hatte. Ganz in der Nähe lag auch die Hazienda von Takaheshi Sakamoto, dem Medienmogul, doch meistens hielt sich seine Nichte Tonia mit ihren hübschen Bodyguards auf dem Anwesen auf. Takaheshi hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Es hieß, er hielte sich in seinem Haus in Antarctica auf – nur hatte ihn auch dort seit Monaten niemand zu Gesicht gekommen. Vielleicht spielte Takaheshi auch nur ein wenig Howard Hughes, um sich interessant zu machen. Pierce konnte es egal sein. Solange Jason wie ein liebeskranker Kater um sein Hausboot strich und ihm anstatt toter Vögel eine Auswahl aus Tonias »Apotheke« brachte, war seine Welt in Ordnung.
Kahia wartete am Pier. Ihre knallroten Haare bildeten einen interessanten Kontrast zu ihrer braunen Haut. Stolz stand sie da, aufrecht, zäh und energiedurchdrungen. Kahia hatte ihren Platz in der Welt gefunden, und sie war jederzeit bereit, ihn zu verteidigen. Vor knapp zwei Monaten war sie bei ihm eingezogen. Sie war als Rucksacktouristin nach Freezone gekommen – und sie hatte noch nie etwas von den Runners gehört. Nun räumte sie sein Haus auf, und wenn er nicht zu zugedröhnt war, schlief er mit ihr. Sie und Jason hassten sich inbrünstig, was Pierce sehr amüsierte.
Nun kletterte sie an Deck und kniete sich neben Pierce. Wortlos nahm sie seinen Arm, suchte die Vene und setzte ihm einen Schuss. Er merkte es nicht mal. Erst als sich die wohlige, entspannende Wärme in ihm ausbreitete, hob er den Kopf. An Kahia war wirklich eine erstklassige Krankenschwester verloren gegangen, fand er. Doktor Feelgoods talentierteste Assistentin.
»Hi, Baby.« Er blinzelte sie an. »Wie schön, dich zu sehen.«
Er zog sich an der Reling hoch und sah sich um. Das SunCo-Boot lag an seinem gewohnten Ankerplatz. Wie hatte der Ami das bloß geschafft? Na, egal. Das Ergebnis zählte.
»Ich sehe, du hast einiges da draußen gefunden.« Kahia deutete auf Doc.
Für ihr Alter verfügte sie über einen fein getunten Sinn für Ironie, fand Pierce, der die beiden miteinander bekannt machte: »Das ist Doc, er ist ’n echter Ami und Schriftsteller, stell dir vor, er schreibt ausgerechnet Science Fiction.«
»Hallo, ausgerechnet Science Fiction«, begrüßte Kahia Doc.
Pierce murmelte: »Hab noch was zu erledigen«, und schwang sich den Niedergang hinunter. Nach Kahias Medizin fühlte er sich erstaunlich fit.
Fast verstohlen entfernte er die Wandverkleidung hinter seiner Koje und zog ein schmales Buch hervor, schlug es auf und las die letzten Eintragungen. »Blue hat geweint. Er hat versucht, es zu verbergen. Mein kleiner Bruder ist so sentimental. Verdammt, warum fühle ich mich jetzt schlecht? Er wusste doch, dass es so kommen musste – mit Louisa, mit mir. Er sagte: ›Louisa ist tot.‹ Unausgesprochen blieb: ›Und jetzt lässt du mich auch im Stich.‹ Erklärungen helfen da nicht. Wie könnte ich auch etwas erklären, was ich selbst nicht verstehe?«
Das war gewesen, als er beschlossen hatte, bei der Band auszusteigen. Pierce erinnerte sich noch gut daran. Es hatte damit angefangen, dass ihm alles egal wurde. Wichtig war einzig, wo er den nächsten Sklak-Trip herbekam.
Die letzte Eintragung – er musste sie ungefähr vor zwei Jahren gemacht haben – lautete: »Die Abwärtsspirale dreht sich jetzt so schnell, dass ich nicht mehr abspringen kann.« Pierce fand, dass er sich gar nicht mal schlecht gehalten hatte. Er nahm einen roten Marker und trug die Koordinaten der Unterwassersiedlung auf der letzten Seite ein. Dazu schrieb er – dick unterstrichen und mit Ausrufezeichen: »Abyss«.
Die Antwort, die eine Frage war
Skadi rannte durch die Nacht. Der Rucksack schlug ihr schmerzhaft in den Rücken. Hinter sich hörte sie den Jungen keuchen. Seltsam, immer wieder lief es auf das eine hinaus: weglaufen. Und – da dies die Nacht der ehrlichen Gedanken war – ihre Reise nach Europa war auch nichts anderes gewesen.
Es schien der richtige Zeitpunkt zu sein. Kein Geld, keine Bindungen und schon längst kein Zuhause mehr. Sie hätte
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