When the Music's Over
wohin, fest stand nur, dass sie nicht mehr auf Freezone war, doch niemand schien es zu kümmern. Am allerwenigsten Shell.
Sie saßen seit Stunden im Übungsraum und spielten – nichts. Es waren nur noch drei Wochen bis zum Festival und sie hatten nicht mal den ersten Set festgeklopft, ganz zu schweigen von den neuen Nummern, die sie nach dem Break spielen wollten.
»Wir sollten wieder mit einem richtigen Drummer spielen«, sagte Toto gedankenlos. »Ich hasse diesen verfickten Drumcomputer.«
»Ich habe neulich am Kai diese komischen Metalldinger gehört. Wär doch irgendwie cool, wenn wir die zersägen würden und uns ein paar Stealdrums draus machen.«
»Mann, bist du gaga. Das ist doch Kunst, frag doch Blue, der kennt sich damit aus. Oder, Blue? Du kennst dich mit diesen kreischenden Mülltonnen da draußen aus.«
»Wenn wir das Solo von der Mitte nach hinten packen, würde der Song mehr Drive kriegen.« Blue hatte beschlossen, einfach so zu tun, als würden sie wirklich für ihren Gig auf dem Festival proben.
»Klar, Mann. Warum sagst du nicht gleich, dass ich mir die Nase pudern soll, während du deinen großen Auftritt hast.«
»He, fürs Nasepudern ist doch unser Blue zuständig, oder?« Toto lachte unbändig über seinen eigenen Witz.
War das immer schon so gewesen, dieser giftige Sarkasmus von Toto und Shell, der nur Scheiße im Hirn zu haben schien? War das immer schon so gewesen und Pierce hatte dafür gesorgt, dass die Runners als Band funktionierten? Blue dröhnte der Kopf, er musste an die Luft.
Mit den Runners ist es schon längst vorbei, warum, glaubst du denn, ist Pierce fort, hatte Jaki ihn gefragt. Rückblickend konnte er nicht sagen, was der Auslöser für Pierce’ Ausstieg gewesen war. Rivalitäten hatte es schon immer zwischen ihnen gegeben, das war wohl so unter Brüdern. Vielleicht lag es daran, dass sie durch die Umstände ihrer Entstehung auf so symbiotische Art miteinander verbunden waren. Ein medizinisches Experiment, genau das waren sie, doch die Folgen waren nicht berechenbar gewesen. Pierce, der ältere der Zwillinge, und er, der auf Eis gelegte Zellklumpen, der auf seine Geburt wartete. Wann hatte es angefangen – im Reagenzglas, bei der künstlichen Befruchtung oder erst nach ihrer Geburt? »Vielleicht sind wir uns einfach zu ähnlich«, hatte Blue spekuliert, doch Pierce hatte ihn ausgelacht.
Pierce war immer der große Bruder gewesen, der auf ihn Acht gab, der seine Kämpfe austrug und seine gefährliche Seite lebte, während Blue selbstvergessen in seinen Traumwelten dahintrieb. Ohne ihn hätte Pierce Songs geschrieben, die seinen hohen Ansprüchen genügten, mit ihm stand er in ständiger, selbstzerstörerischer Konkurrenz, durch ihn wurde er immer dichter an den Abgrund getrieben. War es womöglich seine Schuld, dass sein Bruder mit Sklak angefangen hatte? Oder war es umgekehrt Pierce’ Schuld, dass er, Blue, an dem Punkt im Leben angekommen war, wo er auf sich zurückgeworfen erkennen musste, dass er es nicht packte? Jeder hatte die Wahl, doch oft erkannte man nur rückblickend, wann der richtige Zeitpunkt gewesen war.
Blue hatte oft die Wahl gehabt und es nicht sehen wollen. So war es mit Louisa gewesen – warum musste er gerade jetzt an sie denken? Damals hatte er sich für die Runners entschieden und nicht für die Frau, die er liebte. Louisa hatte auch die Wahl gehabt, doch er konnte sie nicht mehr fragen, ob sie sich dessen bewusst gewesen war und ob sie ihre Entscheidung bereute. Hatte sie ihn womöglich zum Schluss so gehasst – oder hatte sie ihn so sehr geliebt –, dass sie sich selbst zerstören musste, um ihn zu bestrafen? Bedeutete Liebe, unglücklich zu sein?
»Every night I die,
When I cry out your name.«
Blue hatte den Song für Louisa geschrieben. Louisa mit ihren weißblonden Haaren und dem Körper einer Ballerina, seine kleine Meerjungfrau, die ihr Leben auf glühenden Kohlen tanzend verbrachte. Sie sah so zerbrechlich aus, dass Pierce ihn eines Tages unumwunden gefragt hatte, ob sie überhaupt Sex miteinander hätten. Doch ihr Körper war nicht zerbrechlich, das war das Schlimmste. Ihre Seele war zerbrochen, ihr Körper überlebte jeden Horrortrip. Zuerst hatte sich Blue die Schuld gegeben, sein Lebensstil, der sie aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen hatte und den sie ihm zuliebe annahm. Doch dann erkannte er, dass sie schon lange vorher zerbrochen war, er war nur viel zu sehr mit seiner Musik beschäftigt gewesen, um es zu bemerken.
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