When the Music's Over
Diese Erkenntnis machte es für ihn auch nicht leichter, sich nicht die Schuld an allem zu geben.
Sie hatte erst ihn verlassen und dann diese Realität, oder war es umgekehrt gewesen? Zuletzt hatte er sie in einer Zelle gesehen. Aufgegriffen, weil sie einen Mann mit einem Messer verletzt hatte. Blue wollte die Einzelheiten nicht wissen. Sie standen vor ihrer letzten großen Tournee, er hatte nur sein Geld zusammengesucht und dafür gesorgt, dass sie wieder einmal eingewiesen wurde. Als er nach Monaten zurückkam, war sie verschwunden, und niemand wusste wohin. Danach konnte er monatelang keine Louisa-Songs mehr spielen, bis er die CD aufnahm. »Every Night I Die« sollte der bisher größte Erfolg der Band werden.
Jede Liebe, die zu Ende ging, sollte zumindest für einen Song gut sein, hatte Pierce einmal gesagt. Louisa war gut für eine ganze CD mit drei Hit-Singles. »Lohnt es sich nicht, dafür etwas zu leiden?«, hatte Pierce zynisch gefragt. Er hatte nie begriffen, dass es Blue nicht um den Erfolg ging. Erfolg bedeutete nur, dass sie weiter ins Aufnahmestudio gehen konnten und er genug Geld hatte, um die Band zu bezahlen.
Sie hatte immer jemand anders sein wollen, ständig auf der Flucht vor sich selbst – das erkannte er erst, als es zu spät war. Denn bis er eines Nachts den Stoff in ihrer Tasche fand, war sie genau das gewesen, was er gesucht hatte, die Geliebte und Freundin, die immer auf ihn wartete, hinter der Bühne, im Hotel. Und wenn er ihre Songs spielte, stand sie neben Jaki am Mischpult, ihre leuchtenden Haare konnte er sogar noch von der Bühne aus erkennen. Wie hatte er nur glauben können, dass es immer so sein würde?
Nach Louisas Tod hatte Pierce etwas gesagt, das vermutlich auch zu ihrem Zerwürfnis beigetragen hatte. »Du liebst sie doch erst, seit es sicher für dich ist. Tote stellen keine Ansprüche. Früher hast du nie so von ihr gedacht, sei doch ehrlich, Blue. Louisa war einfach jemand, der da war und auf dich gewartet hat. Aber ist dir nie die Idee gekommen, dass sie vielleicht auch auf etwas gewartet hat?« Hatte er Louisa jemals gesagt, dass er sie liebte? Konnte Pierce Recht haben? War seine Liebe zu ihr wieder nur etwas, was er sich vorgemacht hatte, weil es so besser in sein romantisches Weltbild passte? Selbst jetzt noch, in seinen Erinnerungen, dachte er an sie als die entzückende Ballerina, das zerbrechliche, unwirkliche Wesen. Dabei war sie eine Frau gewesen mit ganz realen Hoffnungen und Wünschen, die er nur nie hatte wahrhaben wollen, weil es so viel bequemer für ihn gewesen war.
»Dreamin’ ’bout my baby
I don’t want you
I don’t need your love
As long as I’m dreaming ’bout you, baby.
I keep pretending you’re near.«
Und dann erkannte er plötzlich, in dieser seltsamen Nacht der Selbsterkenntnis und Schuld, was sein größtes Problem war: Er hatte seine Identität verloren. Er sah in einen Spiegel, und was er sah, war Blue. Er hatte sein innerstes Selbst gegen ein künstliches Abbild eingetauscht, welches andere für ihn erschaffen hatten. Er kannte ja nicht mal mehr seinen eigenen Namen! Gäbe es doch einen Weg, ihn zurückzubekommen, dann könnte er auch wieder in einen Spiegel sehen, ohne dass ihm ein Fremder entgegenblickte.
Das Wummern des Basses brachte seinen Schädelknochen zum Vibrieren. Der Augenblick der Erkenntnis war vorbei. Blue schwenkte langsam die Flasche vor seinem Gesichtsfeld hin und her. Sie war leer. Gut, dann wäre bald der Moment da, wo er nicht mehr zu denken brauchte. Irgendwann würde er in eine Koma-ähnliche Bewusstlosigkeit fallen und irgendwann würde er aufwachen und dann wäre er wieder Blue, Sänger der besten Rockband auf diesem Planeten. Er lächelte. Manchmal war es erstaunlich einfach, sich etwas vorzumachen.
Running Nowhere
Pierce ging auf sein Boot und fuhr los. Er steuerte aus der Mole und schaltete, sobald er auf offener See war, den Autopiloten ein. Ohne hinzusehen, hatte er einige Koordinaten eingegeben. Einfach nur weg von Freezone, ganz egal wohin. Blue, endlich hatte ihn die Vergangenheit eingeholt. Er hatte schon fast vergessen, wie schmerzhaft es war. Und er – er war wieder mal zu feige, und alles, was ihm einfiel, war wegzulaufen.
Er war am Mittag zur Hazienda raufgegangen, um mit Takaheshi wegen der Bergung der Panzer zu verhandeln. Der alte Mann saß im Schatten einer Pagode und ließ von einem der Bodyguards, Flyp hieß der Typ, eine Teezeremonie zelebrieren. Pierce konnte sich nur
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