When the Music's Over
stand mit wackligen Knien auf, gab ihm die Hand und murmelte: »Danke, Doktor.«
Der Heiler sah ihn mitleidig an. »Tut mir Leid, dass ich Ihnen so wenig helfen konnte. Ich habe die Vorfälle gemeldet, aber es scheint niemanden zu interessieren.«
Mich interessiert es. Mich interessiert es sogar sehr, denn ich werde daran sterben, wollte er brüllen. Stattdessen zog er sacht die Tür ins Schloss, dankbar, dass der Mann seinen Händedruck erwidert hatte.
Am auffälligsten war der immerwährende Hunger, und solange er aß, fühlte er sich großartig. Essen, in der Sonne sitzen und verdauen und wieder essen. Eine eigenartige Lethargie hatte ihn befallen. Er ließ das Boot treiben, vermied es, die Küstenstädte anzusteuern, lebte von seinen Vorräten und hing seinen Gedanken nach. Erinnerungen an ihre Kindheit und den Beginn ihrer Karriere – beides eine geballte Ladung von Klischees – gehörten seltsamerweise auch zu den Dingen, die ihm durch den Kopf gingen.
Ihre Mutter war Modell-Schrägstrich-Schauspielerin gewesen. Irgendwann hatte sie zwischen zwei »Projekten« beschlossen, schwanger zu werden. Vielleicht dachte sie, ein paar Aufnahmen mit einem niedlichen Baby würden sich gut in ihren Set-Cards machen. Nein, wahrscheinlich dachte sie gar nichts. Er erinnerte sich kaum noch, wie sie als Mensch gewesen war. Gegenwärtiger waren ihm ihre Zustände – depressive Verstimmungen nannten es die diversen, teuren Ärzte. Hysterische Anfälle sagte ihr Vater. Pierce glaubte zumindest, dass der Mann ihr Vater gewesen war: schwarzhaarig, blauäugig, mit einem Hang zum Zynismus, einer guten Stimme, die er in einer Hobby-Rockband einsetzte, mit der er alte Doors-Nummern spielte, und einem gesunden Selbsterhaltungstrieb, denn als die Zustände ihrer Mutter zum Dauerzustand wurden, ging er. Pierce hatte sich oft gewünscht, dass er ihn mitgenommen hätte. Nicht so sein Bruder. Der hing an ihrer durchgeknallten Mutter.
Mit steigendem Drogenkonsum verschwand ihr gutes Aussehen und mit dem Aussehen verschwand auch das Geld. Die »Väter« wechselten immer noch in gleichbleibendem Rhythmus, doch auch sie verloren an Klasse. Einer dieser Väter hatte eine Gitarre zurückgelassen – ein schäbiges Ding, für das sich der Weg ins Pfandhaus wohl nicht mehr lohnte. Pierce lernte darauf zu spielen und Blue sang dazu. Ein anderer Vater schleppte sie zu einem Kumpel, der zufällig jemanden in der »Industrie« kannte, und eine Legende nahm ihren Anfang – oder so ähnlich. Die Imageberater des Labels verpassten ihnen eine typische Über-Nacht-Erfolgsstory-Bio, und sogar ihre Mutter bekam eine Rundumerneuerung. Sie traten in TV-Shows auf, hatten Gastauftritte in einigen Vorabendserien wie der »Benny B. Show«, und mit Blues Eintritt in die Pubertät verschwanden sie wieder in der Versenkung. Der Wohlstand hielt noch eine Weile an, aber mit Unterstützung der Väter zogen sie bald wieder in eine miese Gegend und ihre Mutter nahm sich noch miesere Liebhaber. Pierce hasste sie nicht dafür, er wusste schon damals, sie konnte einfach nicht anders. Was war er doch für ein kluger kleiner Scheißer gewesen.
Blue hielt all die Jahre an einem Traum fest, den Pierce nie teilte: seine eigene Band zu gründen und mit ihr eigene Songs spielen. Dass er bei den Runners einstieg, hatte eigentlich nur einen Grund: Er fühlte sich für seinen kleinen Bruder verantwortlich und wollte ein Auge auf ihn haben. Und jetzt hatte er ihn endgültig im Stich gelassen.
»Mit den Runners ist es vorbei.« Pierce schrak hoch und sah sich alarmiert um. Er war allein – natürlich war er allein.
Die Sonne stand eine Handbreit über dem Horizont und es wurde allmählich kühl. Er zog sich ein ausgeblichenes T-Shirt über – ein Fan-Artikel, der Schriftzug war kaum noch zu entziffern: »Running Wild-Tour«. Er hatte noch eine ganze Kiste von den Dingern.
»Die werde ich wohl nicht mehr auftragen«, dachte er und der Gedanke traf ihn wie ein Faustschlag. Würde er sich denn nie daran gewöhnen, dass es bald mit ihm zu Ende ging?
Seine Schulter juckte. Wenn er jetzt nicht bald etwas essen würde, käme erst das Brennen und dann die Schmerzen. Davon hatte ihm der Heiler nichts gesagt, vielleicht hatte er es auch nicht gewusst. Er hatte versucht, sich mit Drogen zu betäuben, doch sie waren auf einmal wirkungslos. Darin lag schon fast eine poetische Gerechtigkeit, fand Pierce. Statt dass er sich mit Alien-Drogen umbrachte, hielten ihn die Aliens von den
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