Whiskey für alle
Mädchenlachen am anderen Ende.
»Ich meine es ernst. Wo bin ich?«
»Das glaube ich Ihnen, Mr. Bowen. Sie Ärmster.«
»Wo also?«
»Im Neptun .«
»Galway?«
»Galway.«
»Danke.« Seine Stimme klang erleichtert. Galway war keine drei Stunden von zu Hause entfernt. Er schaute auf die Uhr. Dreiviertel vier. Erst etwas essen, dann die Rechnung bezahlen und los. In gemächlichem Tempo würde er noch bei Tageslicht ankommen. Er freute sich geradezu auf die Fahrt. Um halb acht hatte er den Rand seiner Heimatstadt erreicht, und immer noch war es hell. An das, was dann ablief, konnte er sich später ebenso wenig erinnern wie an seine Sauftour. Jedenfalls fand er, dass es noch zu hell am Tage war, um direkt ins Geschäft zu gehen. Also fuhr er zum Anglers’ Rest. Außer Mrs. Malone, der Wirtin, war niemand dort.
»Da sind Sie ja wieder«, begrüßte sie ihn, als wäre er nicht länger als üblich fort gewesen. Tatsächlich hatte es die ganze Woche über Spekulationen ohne Ende über sein Fernbleiben gegeben, die in ehrliche Besorgnis übergingen. Man war sich bereits einig, zur Polizei zu gehen, sollte er bis zum Wochenende nicht aufgetaucht sein. Sauftour hin, Sauftour her, es gab auch Grenzen.
»Wie geht es Ihnen? War’s schön?«, fragte Mrs. Ma-lone und hoffte, dass ihre Erregung der Stimme nicht anzumerken war.
»Es war großartig«, versicherte ihr Jimmy. »Aber jetzt nehm ich erst mal einen Jameson. »
Während sie der Bestellung nachkam, überlegte Mrs. Malone, wen von Jimmys Trinkbrüdern und wen von ihren eigenen Freunden sie als Erste anrufen sollte. Sie nahm den ihr gereichten Geldschein und entschuldigte sich, wollte angeblich nach Wechselgeld sehen. Die Anrufe, in denen sie die Neuigkeit verbreitete, erfolgten vom Hinterzimmer, wo das Telefon war. Sie sprach nur hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton. Ohne zu ahnen, was vor sich ging, saß Jimmy derweil in der Gaststube und nippte an seinem Whiskey. Woher sollte er auch wissen, dass seine ungewohnt lange Abwesenheit für Unruhe gesorgt hatte. Seine Gedanken waren nur darauf fixiert, wie rasch draußen das Tageslicht schwinden würde.
»Nicht mehr lange, und es ist dunkel«, sagte er sich, und einen Augenblick später hatte er den Entschluss gefasst, sich zu dem abendlichen Gang zum Fluss aufzumachen. Er war durch den Whiskey zwar leicht benommen, empfand aber eine wohlige Wärme. In solchermaßen fröhlichem Zustand verließ er Anglers’ Rest und schlenderte zum Flussufer. Zwielicht lag zwischen Flussbett und Himmel. Nicht lange, und alles würde in Dunkelheit gehüllt, die kurzen Momente des Stimmungswechsels in der Natur würden vorüber sein. Die Schatten lagen bereits tief. Gleich würden die blassen Fäden des Abendlichts sich in dem dunklen Teppich der Nacht verlieren. Jimmy Bowen beschleunigte seinen Schritt, um noch rechtzeitig zu seinem geliebten Baum zu kommen. Die Welt schien den Atem anzuhalten. Das an der Oberfläche gesprenkelte Wasser floss still dahin. Jimmy Bowen blieb stehen, unfähig weiterzugehen — unter den weit ausladenden Zweigen des Ahornbaums glaubte er eine weibliche Gestalt zu sehen. Sein Herz flatterte. Sein Atem ging schneller. Verklärt blickte er angestrengt in das Zwielicht, bewegte sich langsam vorwärts. Nein, er irrte sich nicht. Es waren eindeutig die Umrisse einer Frau. Ein zartes Tuch schmückte den abgewendeten Kopf. Ein weißer Regenmantel schützte den schlanken Körper. Das kann nicht sein, sagte sich Jimmy Bowen, und doch stand sie dort, lebte und atmete — natürlich und selbstverständlich wie die hereinbrechende Dunkelheit. Er räusperte sich leise, um sie nicht zu erschrecken. Sie drehte sich zu ihm, und eh er sich versah, lag sie in seinen Armen. Das war der Moment, da Jimmy Bowen spürte, dass in seinem bisherigen Leben etwas Gewaltiges, ja, Großartiges gefehlt hatte. Die Umarmung währte eine Ewigkeit, zumindest kam es Jimmy so vor. In Wirklichkeit dauerte sie eine halbe Minute. Er wagte nicht, ihr ins Gesicht zu schauen. Er riskierte nur einen flüchtigen Blick und war von dem, was er in der Dunkelheit sah, angetan. Ihre Gesichtszüge waren etwas kantig, aber wohlgeformt. Auf der Wange glänzte eine Träne, zumindest hielt er es in dem schwachen Mondlicht für eine Träne. Kein Wunder. Beide hatten sie viel zu lange auf diesen Moment gewartet. Er war gleichermaßen überwältigt, auch wenn über seine Wange keine Träne rann. Sacht nahm er ihre Hand, die sich sofort in die seine
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