Whisper (German Edition)

ich. Auf der Ranch ist gegenseitiger Respekt, Zusammenhalt, Mithilfe und Einsatzbereitschaft überlebenswichtig. Big Bar Creek ist ein kleiner Ort, die Ranch liegt nochmal zwei Stunden entfernt in den Bergen. Teilweise kein Strom, nur kaltes Wasser, es sei denn, man macht es warm, und jeder ist für sich selbst und die anderen da. Rundum nur Wildnis mit Bären, Wölfen und Pumas. Zu überleben heißt, mit der Natur zu leben. Die Pferde sind euer Fortbewegungsmittel. Ihr werdet Arbeiten zu verrichten haben, die keiner von euch je gemacht hat. Nach den drei Wochen habt ihr Schwielen an den Händen, überall blaue Flecken, seid immerzu dreckig, merkt es nicht mal, und könnt ganz leicht auf Schminke verzichten.“
    Der schlafende Junge öffnete die Augen und richtete sich in seinem Sitz etwas auf.
    Christina hatte sich umgedreht und starrte ihn feindselig an.
    „Ach, und woher weißt du das so genau?“
    Der Junge grinste.
    „Na, ich war schon mal dort!“
    Jetzt zog er die Aufmerksamkeit aller auf sich. Von der vorderen Sitzreihe drehten sich nun alle zu ihm um.
    „Duuuuu?“, fragte Christina gedehnt und musterte den hochgewachsenen jungen Mann. Er passte nicht ganz in die Altersklasse. Sie selbst war vierzehn, genau wie Edith, Judith musste etwas älter sein. Patrick war sechszehn und Markus, der konnte auch noch nicht viel älter sein. Aber dieser Typ grenzte sich altersmäßig doch deutlich ab.
    „Scheint nicht viel geholfen zu haben“, bemerkte Judith abfällig und wechselte einen Blick mit Christina. „Sonst wärst du wohl kaum nochmal hier. Wer bist du überhaupt?“
    Der junge Mann lächelte.
    „Um ganz ehrlich zu sein, ich bin jetzt schon zum fünften Mal hier“, er grinste vergnügt. „Mit Fünfzehn hatte ich meinen ersten Auftritt. Genauso wie ihr, wurde ich von meinen Eltern hierhergeschickt, weil ich mit meiner Gang nur rumhing, rauchte, soff wie ein Schlucksprecht, ständig mit irgendwelchen Leuten aneinandergeriet und keiner Prügelei aus dem Weg ging. Ich kann bestimmt so um die zwanzig Knochenbrüche verbuchen, die allein auf Schlägereien zurückzuführen sind. Genau wie ihr jetzt, fuhr ich diesen Weg entlang Richtung Big Bar Creek auf die Six Soul Ranch. Six Soul deshalb, weil es immer sechs junge Seelen sind, die dort aufgenommen werden. Nach diesen drei Wochen war ich fasziniert und wollte unbedingt wieder herkommen. Die Familie Kinsky nahm mich nach meinem ersten Aufenthalt nicht mehr als Problemfall, sondern als Ferialpraktikanten. Jedes Jahr wieder, und jedes Mal blieb ich etwas länger. Diesmal werde ich nicht mehr nach Hause zurückfliegen. Ich habe ab jetzt auf der Six Soul Ranch einen festen Job und kann mich fast schon Kanadier mit deutscher Abstammung schimpfen. Und was Jasmin Bernhard betrifft …“ Er deutete kurz nach hinten. „Ihr habt einen immerwährenden Fehler begangen. Ihr habt euch dazu verleiten lassen, sie abzustempeln, mit dem was ihr gesehen habt. Diesen Stempel trägt sie jetzt herum, ohne es zu wissen. Die Indianer sagen, man soll zuerst drei Monate in den Mokassins desjenigen gehen, über den man urteilen möchte und sein Urteil dann sprechen. Niemand hat es verdient, einen Stempel aufgedrückt zu bekommen, bevor man ihn kennengelernt hat. Und, ach ja, bevor ich es vergesse. Mein Name ist Stefan. Stefan Schwarz.“
    Die Kids waren schweigsam geworden. Zuerst folgten sie neugierig Stefans Worten, doch dann hatten sie ihre Blicke gesenkt, sich teilweise abgewendet, weswegen der junge Mann das Wort wieder ergriff.
    „Ich kann euch mit Sicherheit sagen, dass Jasmin, genauso wie ihr alle, eine Geschichte hat. Von dir Christina, weiß ich, dass du gerne an der Flasche nuckelst, und zwar so lange, bis man dich einliefern muss. Von Patrick weiß ich, dass er nur noch vor seinem PC hängt und nichts mehr um sich herum mitbekommt, noch nicht mal, wenn seine Mutter im Krankenhaus liegt. Du, Edith, hast schon auf dem Strich deine Erfahrungen gesammelt, Markus ist schon unzählige Male wegen diverser Autodiebstähle verhaftet worden und Judith …“ Er hörte, wie sie lästig aufatmete und ärgerlich in ihren Sitz fiel. „... hat ihre Mutter mehrfach schwer verletzt. Auf euren bisherigen Werdegang braucht sich niemand etwas einzubilden, ist erschreckend genug, aber jemanden wie Jasmin vorzuverurteilen, das passt zu euch.“
    Auch Christina war wieder in ihren Sitz zurückgesunken.
    „Hat sie denn auch eine herbe Geschichte, so wie wir, oder ist sie die Unschuld vom