Whisper
Aber als sie den Rollstuhl in den Flur geschoben hatte, klammerten sich ihre Hände einen Moment lang so fest um die Griffe, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Wahrscheinlich ist es wegen Krümel, dachte Noa. Marie fürchtet sich vor dem, was wir über ihn denken.
»Hey Krümel«, sagte sie schnell. »Schön, dass ihr zum Kuchenessen bleibt.«
Außer Lebensmitteln hatte Kat auch Geschirr, Besteck und eine schlichte weiße Tischdecke besorgt. Als sie zu sechst um den kleinen Küchentisch herumsaßen, plapperte Kat, was das Zeug hielt, erzählte von ihrem gerade abgedrehten Spielfilm, dem Stress bei den Dreharbeiten und ihrer Lust auf »richtige Arbeit«, Arbeit mit den Händen, bei der man endlich mal denKopf ausschalten konnte – obwohl sie jetzt für ihre neue Rolle lernen und einen Stapel schlechter Drehbücher durchforsten müsse.
Unter dem Tisch saßen Pancake und Hitchcock und schleckten Sahne von zwei Untertellern. Krümel spielte im Flur mit den Regenschirmen, die Kat in den Schirmständer gestellt hatte. Sein leises Brabbeln drang in die Küche.
Marie hörte Kat zu mit diesem zurückhaltenden Lächeln auf den Lippen, das Noa vom ersten Augenblick an ihr gemocht hatte. Als sich David neben ihr eine Zigarette drehte, seufzte sie leise, aber David ignorierte es. Er zündete die Zigarette an, sah aus dem Fenster und Noa konnte an seinem Gesicht nicht ablesen, ob er gelangweilt oder abwesend war. Draußen war es noch immer grau. Fast bleiern lag die Luft über dem Haus. Kat wechselte das Thema. »Bei unserem Vermieter, diesem Hallscheit, war ich übrigens auch. Die alte Frau vor seiner Haustür hat mir einen Heidenschreck eingejagt. Mein lieber Scholli, die könnte man im Film glatt als Hexe verbraten.«
Marie lächelte. »Ja, sie sieht ein wenig unheimlich aus, da haben Sie Recht. Sie ist Hallscheits Schwiegermutter, seit dem Tod seiner Frau leben die beiden allein.«
Kat schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht glauben, dass jemand mit seiner Schwiegermutter unter einem Dach lebt.
»Aber der Bauer ist ja auch ein komischer Kauz«, sagte sie.
»Kennen Sie ihn?«
»Kennen wäre zu viel gesagt«, erwiderte Marie. »Hier im Dorf kennt natürlich jeder jeden, aber in der Wirtschaft lässt sich Hallscheit selten blicken. David hilft ihm manchmal, wenn es Arbeit auf der Weide gibt. Zäune ausbessern, Pfähle einschlagen – und Esther, Gustafs Mutter, kauft bei ihm immer frische Milch und Eier.«
»Guter Tipp«, sagte Kat. »Und das Haus hier? Hat dieser Hallscheit früher hier gewohnt oder war es immer schon ein Ferienhaus? Mit mir wollte er nicht darüber sprechen, aber das lag vielleicht auch daran, dass ich ihn bei seiner Arbeit im Schuppen überfallen habe.«
Marie nippte an ihrem Kaffee, blickte an David vorbei aus dem Fenster und für den Bruchteil einer Sekunde schienen sich ihre schmalen Schultern anzuspannen.
»Das Haus gehört Hallscheits Schwiegermutter, aber Hallscheit hat es all die Jahre verwaltet. Es gab mal eine Familie aus der Stadt, die hier ihre Wochenenden und Ferien verbracht hat, aber das ist lange her, ich …« Marie blickte zu Noa herüber. Ihre Augen flackerten plötzlich ängstlich, und als sie ihren Satz beendete, klang ihre Stimme brüchig. »… ich war damals ungefähr im Alter Ihrer Tochter.«
»Wow.« Kat strich sich eine Locke aus dem Gesicht. »Dann hat der Kasten ja wirklich ein paar Jahre leer gestanden. Aber was ist mit Ihnen? Wie lange leben Sie denn schon in diesem Dorf? Wirklich seit Ihrer Jugend?«
Man sah Kat an, dass diese Vorstellung ihr geradezu undenkbar erschien, und Noa wurde bewusst, wie naiv ihre Frage an David vorhin gewesen war. Plötzlich kam sie ihr fast vor wie eine Beleidigung.
»Ich bin im Unterdorf aufgewachsen«, erwiderte Marie. »Aber seit mein Mann … seit der Scheidung lebe ich mit meinen beiden Jungen zur Untermiete bei Gustaf und seiner Mutter. Gustaf wurde auch hier geboren, wir sind als Kinder zusammen zur Schule gegangen und für meine Kinder ist er heute so was wie ein Onkel. Es gibt eigentlich keinen, der hierher gezogen ist. Wenn überhaupt, ziehen die Leute weg.«
David drückte seine Zigarette auf einem Unterteller aus, den Kat ihm hingeschoben hatte. »Die Betonung liegt auf wenn überhaupt«, sagte er kalt.
Marie senkte den Kopf und auf ihre Lippen stahl sich ein trauriges Lächeln.
Gilbert, der bis jetzt voll und ganz auf seinen Apfelkuchen konzentriert gewesen war, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als von oben
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