Whisper
das ihr gerade bis zum Bauchnabel reichte. Sie fuhr herum, Kat hatte den Mund schon geöffnet, aber Noa blitzte sie so feindselig an, dass ihre Mutter abwehrend die Hände hob. »Ist ja schon gut, ich sag ja nichts, ich versteh nur manchmal nicht, woher du diese dünnen Beine …«
»Halt einfach die Klappe, Kat«, zischte Noa – und dachte zum hundertsten Mal, dass sie ja selbst nicht verstand, wie Kat und sie Mutter und Tochter sein konnten. Die große Kat mit ihren Venus-von-Milo-hüften, dem vollen Busen, den dichten roten Locken – und sie, Noa. Kleine, dünne dunkle Noa.
Eine ganze Weile lang war Noa der festen Überzeugung gewesen, dass Kat sie adoptiert hatte, aber Kat hatte lachend gesagt: »Glaub mir, mein Herz, mit siebzehn adoptiert man keine Kinder, in diesem Alter muss man sie schon selber machen.«
»Verdammt noch mal«, rief Kat ihr jetzt hinterher, »wie redest du eigentlich mit mir?«
Aber Noa war schon im Flur. Vor dem Bücherregal blieb sie eine Weile stehen und musterte die verstaubten Bücher. Wer auch immer dieses Haus vor ihnen bewohnt hatte, schien einen bunten Geschmack zu haben. Die Sammlung war ein wildes Durcheinander von Natur- und Farbbildbänden über den Westerwald, speckigen Groschenromanen und dicken Medizinfachbüchern, Ratgebern über die Überwindung von Trauerfällen in der Familie, in Seide gebundenen Klassikern, zerfledderten Taschenbüchern und einem Kinderbuch von Astrid Lindgren, von der Noa als Kind alle Bücher verschlungen hatte.
Lächelnd zog sie den Band Die Brüder Löwenherz heraus. Ganz vorne stand eine Widmung, unleserlich und verwischt, als hätte jemand Wasser darauf verschüttet. Noa wollte gerade versuchen sie zu entziffern, als ihr das Lesezeichen auffiel. Es war ein breites Geschenkband aus grüner Seide, und als Noa das Buch an der Stelle aufschlug, wo es lag, war einer der Sätze rot unterstrichen.
Aber wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben.
»Gehst du zuerst ins Bad oder soll ich?«, rief Kat aus dem Wohnraum.
»Ich bin schon auf dem Weg.« Hastig legte Noa das Buch zurück und ging nach unten.
Das Badezimmer war feucht und klamm, der nackte Steinboden kalt. Noa schauderte, als sie die Spinnweben vor den vor Schmutz starrenden Fenstern sah. Ein Waschbecken gab es nicht, nur eine weiße Wanne, die auf gusseisernen Füßen stand, und eine Toilette. Im Wissen, dass es hier kein Licht gab, hatten Noa und Kat gestern Abend das Klo in der Wirtschaft benutzt. Gilbert hatte den Walnussbaum »getauft« und Kat hatte gesagt, das seien die einzigen Momente, in denen sie Männer um ihr kleines Extra beneidete. Sie würde sonst was darum geben, einmal einem Baum ans Holzbein zu pinkeln.
Das Wasser, das aus dem Hahn der Badewanne kam, war so kalt wie das in der Küche. Noa seufzte. So viel zum Thema Morgendusche. Sie putzte sich die Zähne, machte Katzenwäsche und fluchte über eine kleine Glasscherbe, die sie sich beim Rausgehen in die nackte Fußsohle trat.
Im Hausflur stand Gilbert, den Arm voller Bretter, im Mund eine Schachtel voller Nägel. Als Noa, immer noch in T-shirt und Unterhose, die Treppen hochging, rief er ihr etwas Unverständliches hinterher, und erst als sie in den Wohnraum trat, begriff Noa, was Gilbert hatte sagen wollen. Kat saß mit übereinander geschlagenen Beinen und Pancake im Arm auf dem Sessel und plauderte.
Mit David.
Es war zu spät, Noa stand schon mitten im Zimmer. David hatte sich umgedreht und sah sie an; die grünen Augen beunruhigend wach, die eine Augenbraue leicht hochgezogen, um den Mund wieder der Anflug dieses Lächelns. Obwohl er ihr nur in die Augen sah, spürte Noa, dass er sie wahrnahm, von Kopf bis Fuß wahrnahm.
»Huuups«, sagte Kat.
Noa sprang zurück, war drei Sätze später in Kats Zimmer, aber lauter als die Tür, die sie krachend hinter sich zugeschlagen hatte, hämmerte ihr Herz. »Scheiße«, flüsterte sie. »Scheiße, Scheiße, Scheiße.«
Sie lehnte den Kopf an die Tür, lauschte Davids Schritten, wie sie durch den Flur nach unten gingen, riss die Tür wieder auf und war Sekunden später – diesmal hatte Kat nicht gewagt den Mund zu öffnen – in ihrem eigenen Zimmer verschwunden.
Es war der Hunger, der Noa zwei Stunden später aus ihrem Zimmer trieb. Sie hatte ihr Essen gestern kaum angerührt. Wenn sie jetzt nicht bald etwas in den Magen bekam, würde ihr schlecht werden, wie immer, wenn sie zu wenig aß.
Während Noa sich oben verschanzt hatte, hatten David und Gilbert im
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