Whisper
ihren Gustaf. Krümel hängt wahnsinnig an ihr, aber mir geht Esther mit ihrer betulichen Art manchmal ganz schön auf den Geist. Ich glaube, ich könnte wegen Drogendealen im Knast sitzen, sie würde mich immer noch als ihren guten Jungen bezeichnen.«
Noa blickte zurück. Sie hatte Esther nur ein paar Mal kurz gesehen, aber betulich kam sie ihr nicht gerade vor.
»Hat Krümel sich gestern wieder beruhigt?«
»Geht so.« David zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, was ihn da oben im Flur so aus der Fassung gebracht hat. Aber deine Mutter hat echt cool reagiert.« David sah Noa an. »Tut mir Leid, dass ich so ausgeflippt bin.«
Noa nickte nur. »Das muss nicht leicht für dich sein«, sagte sie nach einer ganzen Weile.
An Stelle einer Antwort drehte David die Musik wieder lauter.
Billy don’t ask why.
He just stares at the sky.
He says: »Love always leaves you bent,
This way I pay the rent.«
He makes love a crime.
»Jim Caroll ist im miesesten Viertel von New York aufgewachsen«, sagte David. »Hat als Jugendlicher bis zum Hals in Drogen gesteckt, bis ihm ein Schwarzer da rausgeholfen hat. Er war ein 1a-Basketballer, aber berühmt geworden ist Jim wegen seiner Tagebücher, die er als Jugendlicher geschrieben hat. Später ist er Musiker und Komponist geworden. Seine Stücke sind für mich wie Gedichte. Sogar Englisch gebüffelt hab ich, um sie zu verstehen. Vor allem, was Jim über die Sterne schreibt. In fast jedem Stück kommt etwas von ihnen vor.«
Noa musste lächeln. So einen Redestrom hätte sie von David gar nicht erwartet. Er sprach von diesem Musiker, als wäre er ein alter Freund. Aber so etwas in der Art schien er für ihn ja auch zu sein. Sicherlich eine Art Seelenverwandter.
»Und du?«, fragte sie. »Schreibst du auch?«
»Ich?« David lachte. »Keine Spur. Mir liegt mehr das Zuhören. Manchmal nehme ich mir Jims Musik mit nach oben aufs Dach. Du weißt schon … wo wir uns an eurem ersten Abend gesehen haben.« David grinste Noa an. »Wenn du willst, nehme ich dich mal mit hoch.«
Noa seufzte. »Geht leider nicht. Ich … ich hab Höhenangst.«
» Höhen angst?!« David warf Noa einen so entsetzten Blick zu, als hätte sie ihm von einer tödlichen Krankheit erzählt. »Du lieber Himmel, wie kommt man denn zu so was?«
Noa zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich hab das, solang ich denken kann. Mich kriegst du nicht mal aufs Dreimeterbrett.«
Ungläubig schüttelte David den Kopf. »Höhenangst. Ich glaube, wenn ich so was hätte, würd ich mir den Strick geben. Was gibt es Schöneres, als von irgendwo ganz weit oben auf die Erde zu schauen?«
Noa schwieg und sah aus dem Fenster. Mittlerweile hatten sie das Dorf verlassen, waren über die Zufahrtsstraße zurück auf die Landstraße gefahren. An der Stelle, wo Kat vor zwei Tagen das Reh überfahren hatte, schnürte sich Noas Kehle zusammen. Auf der Straße, neben dem Weizenfeld, schimmerte noch immer der dunkle Blutfleck. Aber das Tier war weg und Noa war froh, dass David den Fleck nicht bemerkte.
Der Baumarkt, ein hässlicher Kasten mit roter Neonbeleuchtung und einem großflächigen, fast gänzlich leeren Parkplatz, lag am Rand der nächstgrößeren Stadt. Hachenburg hieß sie und war laut Kat ein nettes Schmuckkästchen mit Renaissancebauten, einer katholischen Pfarrkirche, verwinkelten Gässchen und einem Marktplatz mit Kopfsteinpflaster. Noa hätte gern mit David einen Kaffee dort getrunken, aber Kat hatte sie gebeten gleich zurückzukommen. Sie wollte den Wohnraum heute fertig kriegen.
David zog einen der riesigen Einkaufswagen hervor, schwang sich mit einem Satz hinein und grinste Noa zu. »Jetzt bist du der Chauffeur. Einmal in die Farbabteilung, wenn ich bitten darf.«
Noa kicherte, stemmte sich gegen die Griffe und nahm Anlauf. Die langen Flure mit den bis zur Decke reichenden Regalen waren menschenleer, sodass der Wagen richtig in Fahrt kam. David pfiff durch die Zähne und Noa lief noch schneller, stellte ein Bein auf das Eisengestell, schob mit dem anderen nach und lachte laut heraus. So leicht. So leicht konnte man sich fühlen, wenn man glücklich war.
Noch ein Stück schneller wurden sie und Noa bemerkte den dunkelhaarigen Mann, der an einem der hinteren Regale stand, viel zu spät. David hob beide Hände in die Luft, aber Noa konnte nicht mehr bremsen. Sie fuhr dem Mann in die Hacken, er taumelte und stürzte mit ausgefahrenen Händen in einen Turm aus Farbdosen. Es war wie in einem Slapstick. Scheppernd
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