Whisper
keine Kraft mehr sein.
Unten ging ein Licht an, eine Taschenlampe, ein Scheinwerfer, irgendwas in der Art, und hinter Noa wurden Schritte laut, herbeistürzende Schritte, Gustaf und Robert. Noa fühlte, wie Esther nach hinten gerissen wurde, jemand zerrte an ihren Händen und Esther schrie, es klang wie ein Krächzen, hoch und heiser. Ihre Hände lösten sich von Noas Hals, aber Esthers Knie schnellte vor. Es war ein hartes, spitzes Knie, das sich Noa in den Oberschenkel bohrte und sie nach vorne stieß.
Wie im Reflex breitete Noa die Arme aus. Ihre Augen waren weit aufgerissen, sodass sie tief unter sich das Sprungpolster sehen konnte.
Ja, David hatte Hilfe geholt, blitzschnelle Hilfe. Er stand neben dem Sprungpolster – zusammen mit Dennis.
Das Fallen, es war wie Fliegen.
Und das Landen, es war so weich. Fast hätte Noa gelacht.
DREISSIG
Ein Ende. Ich habe mir gar kein Ende ausgedacht. Gleich beginnt meine Geschichte, aber ich habe noch kein Ende. Geht das überhaupt? Kann man sich eine Geschichte ausdenken und das Ende offen lassen?
Eliza, 21. August 1975, 23:55 Uhr
D er Sommer hatte sich verändert. Es war nur eine Woche vergangen, seit Elizas Körper geborgen und Esther verhaftet worden war. Eine Woche, seit die Möbel auf dem Dachboden verbrannt worden waren und Elizas Duft aus dem Haus verschwunden war. Er verschwand noch in derselben Nacht, noch bevor Robert die Polizei und dann Marie anrief, mit der Bitte, Kat aus dem Krankenhaus zu holen. Eine aufgelöste, hysterische Marie und eine Kraft spendende, ruhige Kat waren im Haus erschienen und zum ersten Mal hatte Noa im Gesicht ihrer Mutter winzige Fältchen wahrgenommen.
Kat und Robert waren die Einzigen, denen Noa von dem Geisterspiel erzählte. Und sie glaubten ihr, sogar Kat. Gilbert würden sie nichts sagen. Er lag noch im Krankenhaus. Kat hatte ihm aus der Buchhandlung in der Stadt Bücher besorgt. Biografien, Romane, etwas anderes wollte er nicht.
Elizas Juwel hatten sie im Ofen verbrannt. Die Flammen hatten das Buch mit ihren heißen Zungen umschlossen und Seite für Seite verschlungen. Nur der rote Stein war übrig geblieben.
Noa hatte ihn am nächsten Morgen bei den Rosen am Gartentor vergraben.
An diesem Morgen hatte Noa dem Haus den Namen Whisper gegeben.
Ja, der Sommer hatte sich verändert. Er schien Abschied zu nehmen, obwohl die Sonne noch immer heiß war und die Nächte noch immer warm waren. Wie diese, wie die heutige Nacht.
Gestern hatten Robert und David den Bus aus der Werkstatt geholt. Jetzt stand er auf der Lichtung, wo David Noa die Sterne gezeigt hatte, damals.
Damals? Ja, damals, in einer anderen Zeit.
Die Türen von Davids Bus standen offen und sie ließen die Nacht hinein, die Nacht, die Stille und die Sterne. Noa und David lagen auf der Matratze, David auf dem Rücken, Noa auf der Seite. Draußen war es still, im Bus war es still, David war still und Noa war still. Eine kleine Ewigkeit lang.
»Sag mir noch einmal, wie Berlin ist.« Davids Stimme war ein Flüstern, ein warmer Wind an Noas Ohr, und Noa musste lä-cheln.
»Berlin ist ein großes, stinkendes Monster«, flüsterte sie zurück. »Aber es kann auch sehr schön sein.«
David gab ihr einen Kuss, direkt neben ihren Mund. Seine Lippen berührten ihre Haut und waren schon wieder verschwunden.
»Gute Nacht, Noa. Schlaf gut.«
Eine lautlose Stimme in Noa fragte: Hast du Angst?
Noa atmete ein. Nein. Nein, ich habe keine Angst.
Bist du bereit?
Noa atmete aus. Ja, ich bin bereit.
Ihre Hand wanderte auf Davids Körper zu. Sie glitt unter sein T-shirt und über seinen Bauch, seine so unglaublich weiche
Haut. Da war ein Beben unter seinen Bauchmuskeln, ein feines, hauchzartes Beben.
Ganz langsam begegneten sie sich.
David streichelte ihr Gesicht, seine Finger tasteten, nein, flossen über Noas Augen, ihre Nase, ihre Lippen. Sie öffnete ganz leicht ihren Mund. Ihre Hand wollte auch zu seinem Gesicht, seinen Lippen. Ihre Fingerspitze wurde umschlossen von etwas Weichem, Heißem, etwas unheimlich Angenehmen. Diesmal war kein Splitter in ihrem Finger, keine Angst in ihrem Herzen. Kein Gedanke an das, was vergangen war. Das hier war jetzt.
Und jetzt wird mein erstes Mal sein, dachte Noa. Das hier mit David, das wird mein erstes Mal sein.
Es dauert lange, bis ihre Lippen sich trafen.
Alles vermischte sich. David beugte sich jetzt ganz über sie, er nahm sie fest in den Arm und Noa dachte nichts mehr, gar nichts mehr, sie war nur noch Gefühl.
Sie sahen sich
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