Whisper
ein Geräusch ertönte. Es klang wie ein Stöhnen, aber so laut und durchdringend, dass Gilbert vor Schreck seine Kuchengabel fallen ließ.
Fast gleichzeitig waren Marie und David aufgesprungen. Noa, Kat und Gilbert folgten ihnen.
Krümel war nicht mehr im Flur, irgendwie musste er es die Treppe hinaufgeschafft haben und dort, vor den Dachbodenstufen kniete er jetzt. Er war völlig außer sich, ruderte mit den Armen in der Luft, als versuchte er einen unsichtbaren Gegner abzuwehren, und sein Stöhnen schlug jetzt um, in schrille, panische Schreie. Marie war leichenblass. »Kalle, mein Junge, mein Liebling, beruhige dich, es ist doch alles gut …« Sie machte einen Schritt auf ihren Sohn zu, fuhr aber zurück, als sie sein Arm an der Schulter traf.
David versuchte seinen Bruder bei den Armen zu packen, aber es brauchte drei Anläufe, bis es ihm endlich gelang. Ganz fest hielt David seinen Bruder im Arm, wiegte ihn hin und her wie ein Riesenbaby, minutenlang, bis Krümels Stöhnen leiser wurde und endlich versiegte.
Kat, Gilbert und Noa standen hinter Marie, die mühsam um Fassung rang. »Bitte verzeihen Sie, dass … der Junge kann nichts dafür … ich …«
»Hör endlich auf dich zu für ihn zu entschuldigen!«, schrie David seine Mutter an.
Ehe Marie etwas erwidern konnte, legte Kat ihr die Hand auf die Schulter. »Ich finde, Ihr Sohn hat Recht, Marie! Fragen Sie mal meine Tochter, wie ich manchmal rumbrülle, dagegen ist Ihr Kalle noch das reinste Lamm. Stimmt’s Noa?«
Noa nickte, dankbar für Kats Lüge, und Marie sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Ich danke Ihnen, Frau Thalis. Ich bin, wir sind … wir haben das nicht einfach mit unserem Jungen hier im Dorf. Komm …« Sie griff nach Krümels Hand, löste ihn sanft von David. »Komm mit mir, wir gehen nach Hause. David kommt bald nach, hörst du? Komm, mein Liebling, Oma Esther wartet schon.«
In Krümels Augen glitzerte noch eine Spur von Angst, aber er war wieder ganz ruhig und ließ sich von seiner Mutter nach unten bringen, ganz langsam, Stufe für Stufe. Noa hörte, wie Marie ihm unten im Flur in den Rollstuhl half. Leise und liebevoll redete sie dabei auf ihn ein. Kurz darauf fiel die Haustür ins Schloss.
David stand auf. Er strich sich das Haar aus der Stirn und sah Kat an.
»Brauchen Sie so was auch, um sich auf Ihre neue Rolle vorzubereiten?«, fragte er abfällig. »Haben Sie die beiden deshalb gebeten zum Kaffee zu bleiben?«
Noa sah, wie Gilbert zusammenzuckte, aber Kat verzog keine Miene.
»Mir ist mal eine Rolle angeboten worden«, entgegnete sie ruhig, »in der ich die Mutter eines behinderten Kindes spielen sollte. Ich habe die Rolle abgelehnt, weil ich die Rolle der Mutter unrealistisch fand. Sie war immer geduldig, immer liebevoll, hat nie die Nerven verloren, nie ein böses Wort an ihren Sohn gerichtet, der ihr das Leben zur Hölle machte. Ich habe zu meinem Regisseur gesagt, der Drehbuchschreiber hätte keine Ahnung, solche Mütter gäbe es nicht. Aber ich glaube, ich habe mich geirrt. Deine Mutter ist genau so, stimmt’s?«
Davids starrte auf den Holzboden, auf dem sein Bruder vorhin gekniet hatte, und dann auf die Dachbodentür, die immer noch verschlossen war. Dann sah er Kat an und Noa entdeckte Scham in seinen Augen. »Normalerweise kriegt Krümel solche Anfälle nur, wenn ihm etwas Angst macht«, sagte er leise. Kat wechselte einen Blick mit Gilbert, aber der zuckte ratlos mit den Schultern. »Vielleicht eine Maus«, sagte Noa. »Pancake hat Kat heute Morgen eine zum Frühstück serviert.« David musste lächeln. »Vielleicht«, sagte er. »Also dann, ich mache jetzt mit der Wand weiter. Hilfst du mir?«
Er hielt Noa die Tür zum Wohnraum auf. Noa war den ganzen Tag noch nicht draußen gewesen, aber jetzt war es nicht nur der graue Himmel, der sie im Haus hielt.
Als sich David verabschiedete, war es schon dunkel. Der Wohnraum war frisch verputzt, morgen würden sie streichen können, und als Kat David für den nächsten Abend zum Essen einlud, willigte er ein.
Noa brachte ihn zur Tür.
»Dieser Gilbert ist nicht dein Vater, oder?«, fragte er, bevor er ging.
Noa schüttelte den Kopf. »Er ist Kats Freund«, murmelte sie.
»Aber sie haben nichts miteinander. Und dein Vater? Wo ist er?«
David antwortete nicht. Seine Augen wanderten über Noas Gesicht. An ihren Lippen blieben sie hängen. »Du und deine Mutter, ihr habt denselben Mund. Die Oberlippe, der Knick in der Mitte. Wie bei
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