Whisper
Räume waren, würde sie Kats Rolle für den neuen Spielfilm am Ende des Sommers wahrscheinlich mitsingen können. Kat war Schauspielerin, eine der wenigen, die es »geschafft« hatten, wie Gilbert das nannte.
Ihr letzter Kinofilm Bis aufs Blut , ein Liebesdrama, das im Dritten Reich spielte, hatte Kats Gesicht auf die Titelbilder sämtlicher Zeitschriften befördert. Die Presse nannte sie »Katharina die Große« und es verging keine Woche, in der nicht mindestens ein Reporter für ein Interview bei ihnen anrief. Kat liebte das, öffnete jedem Fotografen die Tür – alle Türen, einmal sogar die zu Noas Zimmer, wofür Noa ihre Mutter drei Tage lang mit eisigem Schweigen bestraft hatte. Seither schloss Noa ihr Zimmer ab. Aber hier gab es keine Schlüssel.
Und auspacken würde Noa auch nicht. Es hatte überhaupt keinen Sinn. Der Schrank war so staubig, dass Noa beschloss fürs Erste nur das Bett zu beziehen. Als sie anschließend in die Küche ging, um sich einen nassen Lappen für den Schrank zu besorgen, kam so eisig kaltes Wasser aus der Leitung, dass Noa zurückzuckte.
Sie setzte sich in Gilberts Kammer aufs Bett und sah aus dem Fenster. Draußen hatte es bereits zu dämmern begonnen und Noa war erstaunt, wie schnell sich das bleiche Grau in Dunkelheit verwandelte. Licht gab es nur in diesem Zimmer, hinten im Bad und im Wohnraum, wo Kat versuchte den Ofen in Gang zu kriegen.
»Bis wir dieses Haus halbwegs bewohnbar gemacht haben, wird unser erster Urlaub hier vorbei sein«, jammerte Gilbert.
»Hätte Kat uns nicht ein bisschen mehr Luxus gönnen können?«
Er hatte einige seiner Edelhemden in den Schrank gehängt und war gerade dabei, einen geeigneten Platz für seinen Buddha zu finden. Schließlich entschied er sich seufzend für die halbwegs vom Staub befreite Fensterbank. Davor auf dem Boden stapelten sich seine Teedosen und die Bücherkisten standen geöffnet neben der Tür.
Gilbert rückte seine runde Brille gerade und sah sich kopfschüttelnd um. Er war dreiundfünfzig, auf den Tag genau zwanzig Jahre älter als Kat, aber Noa fand, dass man ihm sein Alter nicht ansah. Sein Gesicht zog sich nur in Falten, wenn er lachte, seine hellblauen Augen strahlten meist wie die eines kleinen Jungen und sein rotblondes Haar schimmerte so seidig, als mache er Werbung für Haarkuren. Jetzt allerdings hatte sich jede Menge Staubflusen darin festgesetzt und auf Gilberts Stirn prangte ein Schmutzstreifen.
»Dabei hätte ich meine Schätzchen so gerne ins Regal gestellt«, brummte er und wischte sich die Hände an der Jeanshose ab.
»Aber das muss wohl erst noch gebaut werden. Das Bücherregal oben im Flur ist ja bereits von unseren Vorgängern in Beschlag genommen worden, und wie ich Kat kenne, will sie sich von dem Kram da oben bestimmt nicht trennen.«
Das Bücherregal im Flur hatte Noa noch nicht begutachtet, aber Gilberts Schätzchen kannte sie nur allzu gut. Sie hießen Der kosmische Bestellservice , Wünsche ans Universum , Das Gummibärchenorakel , Du und dein Krafttier oder auch Das Handbuch der Parapsychologie . Letzteres legte Gilbert auf sein Bett, er hatte es schon auf der Fahrt zu lesen begonnen, es war ein dreihundertseitiger Wälzer über Geisterbeschwörungen, spiritistische Sitzungen und hellsichtige Träume, den Gilbert spätestens übermorgen zu Ende gebracht haben würde.
Gilbert fraß Bücher, wie Kat es ausdrückte. Esoterische Bücher – mit den unmöglichsten Titeln und noch unmöglicheren Inhalten. Ihretwegen hatten er und Kat sich kennen gelernt, vor dreizehn Jahren in Gilberts spiritueller Buchhandlung, als Kat in einer Spielfilmserie eine auferstandene Tote spielen sollte und Hintergrundmaterial für ihre Rolle suchte. Noa war drei Jahre alt gewesen, als Kat damals mit ihr in Gilberts Buchhandlung gegangen war. Während Noa auf der Leselok in der winzigen Kinderbuchecke gehockt war und in Bilderbüchern geblättert hatte, ließ Kat sich von Gilbert beraten, lachte ihn dabei immer wieder aus und lud ihn anschließend zum Essen ein. Denn trotz seiner »Esomacke«, mit der Kat ihn auch heute noch aufzog, war Gilbert der intelligenteste Mann, dem Noas Mutter je begegnet war – was bei Kats wechselnden Affären etwas heißen wollte. Wie viele Männer in Noas sechzehnjährigem Leben durch Kats Schlafzimmer ein und aus gegangen waren, konnte Noa nicht mehr zählen. Und wollte es auch nicht. Gilbert war schwul, wofür ihm Noa dankbar war. Denn so würde er Kats Freund bleiben und Noas
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