Whisper
Vaterersatz. Oder Mutterersatz, wie Gilbert lachend zu sagen pflegte.
»So, Leute, der Ofen ist an, lasst uns was essen gehen.« Kat stand in der Tür, die Hände in die Hüften gestemmt, und hatte ihren typischen, entschlossenen Gesichtsausdruck aufgesetzt, der keine Widerrede duldete. Mittlerweile war es draußen so dunkel, dass die Küche hinter ihrem flammenden Haar verschwand wie ein schwarzes Loch.
Im Flur neben der Tür standen die frisch gefüllten Katzennäpfe. Die Erlaubnis zum Mäusejagen würde Kat wohl doch auf später verschieben. Pancakes gieriges Schmatzen erfüllte den Flur, aber als Noa in den Garten trat, empfing sie Stille. Die Gardinen des Nachbarhauses waren jetzt zugezogen und nur in der Ferne bellte ein Hund.
Während Gilbert die Tür abschloss und Kat geräuschvoll die klare Landluft einatmete, schaute Noa auf die Laterne vor dem Haus. Ihr gelbes Licht flackerte, als würde es vom Wind bewegt, und es war in diesem Moment, dass Noa zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass jemand sie ansah. Jäh wandte sie den Kopf und blickte zurück zum Haus. Aber die Lichter waren aus, die Fenster dunkel. Noa versuchte das Gefühl zu verdrängen, es herunterzuschlucken, wie Kat es immer tat. Doch Noa war nicht Kat, und während sie ihrer Mutter und Gilbert auf dem schmalen Weg zum Gartentor folgte, blieb ihr das Gefühl im Hals stecken.
ZWEI
Es ist, als ob er seine Worte zu Hause sparen würde, um sie draußen auszuteilen. Die Dorftrottel in der Kneipe kleben schon jetzt an seinen Lippen wie die Bienen am Honig. Der Herr Doktor aus der Stadt mit seiner schönen Tochter. Ich sage kein einziges Wort. Mein Gesicht ist aus Glas und ich wünsche mir, dass sich jemand daran schneidet.
Eliza, 5. Juli 1975
A m Himmel tauchten schon die ersten Sterne auf. Wie silbrige Punkte sprenkelten sie die Schwärze über dem Dorf. Noch immer war die Dorfstraße leer, aus einem Stall drang das leise Muhen einer Kuh und vom Bürgersteig, schräg gegenüber von der Kneipe, hörte Noa Stimmen. Stimmen von Jugendlichen, die an einer Bushaltestelle standen und ihnen den Rücken zukehrten. »Einen Kasten Bier, zwei Pullen Wodka-Redbull, das knall ich schon weg … « – »Erzähl keinen Scheiß, Alter, so dürre wie du bist, kippst du doch schon bei der ersten Pulle aus den Latschen …« – »Ey komm, Dennis, das musst du grad sagen, wer hat denn hier gestern auf die Weide gekotzt …«
Noa zwang sich wegzuhören und versuchte die Bilder, die vor ihrem inneren Auge aufstiegen, in den Hintergrund zu drängen. Aber es gelang ihr nicht. Die Bilder kamen, eins nach dem anderen und zuverlässig wie ungebetene Gäste: Kats in einenPartykeller verwandelte Garage mit dem flackernden Rotlicht. Svenja und Nadine, beide total betrunken. Die riesigen Boxen, die winzige Tanzfläche. Noa selbst in der Mitte, umringt von den anderen. Heikos Augen. Seine dunklen Augen, funkelnd, lachend. Seine Hand, die Noa wegzog, weg aus dem Keller, hoch in die Wohnung und … Noa presste die Finger gegen die Schläfen, schüttelte kurz und heftig ihren Kopf. Nein, nicht weiterdenken, nicht jetzt, nicht hier!
Noa hängte sich an Gilberts Arm und vergrub ihr Gesicht in seiner weichen Wildlederjacke. Er streichelte ihr über den Kopf, als wüsste er, womit sie kämpfte – als wüsste er auch, warum sich Noa letztlich doch für diesen Urlaub und nicht für die Reise mit ihren so genannten Freunden auf die Partyinsel Mykonos entschieden hatte, wo Svenjas Tante ein kleines Hotel leitete. Ja, bestimmt wusste Gilbert es. Schließlich war er es gewesen, der in jener Nacht an Noas Bett gewacht hatte. Er. Nicht Kat.
Und auch nicht Svenja oder Nadine, denen Noa nie erzählt hatte, was geschehen war. Nicht mal Gilbert hatte sie sich anvertraut, hatte sich nur mit seiner Nähe getröstet, und manchmal hatte Noa das Gefühl, er war nicht nur der Ersatz eines Elternteils, sondern ersetzte auch die Freunde, die sich Noa wünschte. Freunde, mit denen man mehr machen konnte, als auf Partys zu gehen, sich zu betrinken oder nachmittags in irgendwelchen Shoppingcentern abzuhängen. Freunde, mit denen man über mehr reden konnte als über Markenklamotten, Typen, andere Mädchen mit dicken oder dünnen Hintern, zu viel oder zu wenig Busen. Freunde, die sie nicht ständig über Kat ausfragen oder auf irgendwelche Premierenfeiern mitgehen wollten. Hey, schaut her, ich bin mit der Tochter von Katharina Thalis befreundet. Noa atmete scharf aus. Wie lange würde es dauern, bis Kat
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