Whitley Strieber
baute sich hinter der eifrig schmatzenden Obdachlosen auf. Miriam hatte ihr offenbar genau erklärt, was zu tun war. Miriam ließ einen gewöhnlichen Menschen an diesem schrecklichen Geheimnis teilhaben! Was, wenn Leo sie zu erpressen versuchte und damit drohte, zur Polizei zu gehen? Um dies auszuschließen, gab es nur eine Möglichkeit. Sie musste, wie Sarah, Miriams Leibeigene werden, und dazu brauchte sie Hüter-Blut in ihren Venen.
Die Socke traf den Hinterkopf der Frau. Es war ein schwacher Schlag, nicht von Expertenhand geführt. Die Frau bellte überrascht auf und spuckte Kuchenstücke.
»Nochmal«, sagte Miriam. Sie blieb völlig gelassen.
Die Frau begann aufzuspringen. Leo schlug erneut zu, aber die Frau war schon halb auf den Beinen, und der Schlag war sogar noch wir- kungsloser als der Erste. Sie stieß gegen die Tischkante und rief et- was, das wie Russisch klang.
Miriam antwortete mit barscher Stimme, in derselben Sprache. Die Frau schob den Tisch zur Seite und stürmte auf Sarah und die dahin- ter liegende Tür zu.
»Hinterher, Leo«, sagte Miriam.
Der nächste Schlag traf sie mitten auf den Schädel – er war nicht gut platziert, hatte aber so viel Wucht, dass die Frau wie ein Kartoffelsack umfiel. Ihre Stirn schlug mit einem dumpfen Knall auf dem Kachelbo- den auf.
»Jetzt«, sagte Miriam, »wird Sarah ihre kleine Lanzette zum Einsatz bringen, nicht wahr, Sarah? Hole sie und zeige Leo, wie man es macht.«
Sarah starrte auf den Körper, auf das langsame Heben und Senken des Brustkorbs, auf das seltsam entspannte Gesicht der Frau. »Sie liegt in meinem Arbeitszimmer.«
»Dann hole sie. Beeil dich.«
Sie eilte zum Schlafzimmer, durchquerte es und stieg die schmale Treppe zu ihrem winzigen Arbeitszimmer hoch. Ihr Schreibtisch lag voller Papiere, und auf dem Bildschirm ihres Computers leuchtete der Tabellenrahmen eines statistischen Analyse-Programms, mit dem sie seit einiger Zeit arbeitete. Sie war dabei, die Wirkung einer aus Mi- riams Blut gewonnenen Plasmalösung auf die abgestorbenen Zellen der verblichenen Gefährten ihrer Herrin zu testen. Bislang waren die Resultate unbefriedigend.
Sie wusste, dass sie es nicht sollte, aber sie setzte sich. Ihr Körper verzehrte sich nach frischem Blut, schrie förmlich danach, aber sie setzte sich trotzdem, gönnte sich einen kurzen Blick auf die Zahlenko- lonnen und dachte für einige Augenblicke an das erlösende Mittel, an dem sie arbeitete.
Sie war im Begriff, einen Menschen zu töten, und dieser kurze Au- genblick der Selbstbesinnung war tröstlich, denn irgendwo in diesen Zahlenkolonnen und den Zellstrukturen, die sie repräsentierten, ver- barg sich ein Weg, den eigenen Körper von Miriams Blut zu reinigen ... vielleicht sogar ein Weg, Miriams Gefährten, die auf dem Dachboden vor sich hinvegetierten, aber nicht starben, wieder zum Leben zu erwe- cken.
Nach einigen Mausklicks erschien auf dem Bildschirm das Foto von jemandem, der ganz gewiss gestorben war. Miriam hatte ihr ausdrück- lich verboten, dieses Foto aufzustellen; sie wollte es nirgendwo im Haus sehen.
Sie starrte es an, betrachtete das lächelnde Gesicht ihres geliebten Tom. Sie und Tom Haver hatten gemeinsam Miriams Geheimnis ent- deckt. Es war für sie eine berauschende Zeit im Riverside Hospital ge-
wesen, als sie auf die Tatsache gestoßen waren, dass Miriam zu einer bislang unbekannten intelligenten Spezies gehörte, die neben der Menschheit auf der Erde lebte.
Auf dem Foto lächelte Tom. Es war ihr letzter sorgloser Tag mitein- ander gewesen. Genau genommen war es der letzte sorglose Tag in Sarah Roberts' Leben überhaupt gewesen.
Hinter ihm erkannte man das Meereskunde-Museum am Pier in der South Street, als es dort noch nicht all die neuen Restaurants und Touristen-Attraktionen gab. Sie waren gerade von einem der alten Se- gelschiffe heruntergekommen. Es war ein sonniger Herbstnachmittag gewesen. Er hatte eine dunkelblaue Windjacke getragen.
Sie erinnerte sich noch an jedes Detail von ihm, als sie das Foto ge- schossen hatte, sogar an sein Rasierwasser. Es hatte Jade East ge- heißen. Sie waren Hand in Hand durch die South Street geschlendert, hatten auf dem Fulton Fischmarkt Austern gekauft, waren nach Hause gegangen und hatten auf ihrer winzigen Wohnungsterrasse die Aus- tern geschlürft. Gott, hatten sie sich geliebt.
Elf Tage später hatte Miriam ihn umgebracht. Sie hatte Tom umge- bracht, und nun wohnte seine Seele in Sarahs Herzen. Sie sprach nie von ihm, wagte
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