Whitley Strieber
redeten sie es sich ein.
Während ihrer beklemmenden, unruhigen Nacht war Sarahs Hunger stetig größer geworden. Miriam hatte ihr nicht die liebevolle Zuwen- dung gewährt, die Sarah sonst zuteil wurde. Stattdessen hatte sie Leo aufgetragen, sich um Sarah zu kümmern, ihr Aspirin zu holen und eine Opiumpfeife für sie zu bereiten. Seit ihrer Rückkehr aus Frankreich schien Miriam Leos Gesellschaft vorzuziehen, was Sarah sehr beunru- higend fand. Sie mochte Leo nicht. Sie wollte nicht, dass Leo sich in ihr Leben mit Miriam drängte.
Sarah rauchte in der Bibliothek, während Miriam ein altes Hüter-Buch aus dem Regal nahm und darin herumblätterte. Sie schien eine be- stimmte Stelle zu suchen, die sich irgendwo auf einer der reich illus- trierten Seiten verstecken musste. Sarah war es nicht gelungen, die schrecklich komplizierten Wortgebilde zu entschlüsseln, und als sie darum gebeten hatte, die Sprache beigebracht zu bekommen, hatte
Miriam ihr geantwortet: »Deine Spezies ist nicht intelligent genug, um Prime zu lernen.«
In Miriams altertümlichen Büchern fanden sich alle Informationen über die Geschichte der Hüter. Wenn Sarah jemals ihr Buch zu Ende schreiben wollte, musste sie Prime lesen können. Ohne Miriams Hilfe würde sie dazu jedoch die Unterstützung professioneller Linguisten und Hieroglyphen-Experten benötigen.
Miriam trug eine ihrer zahlreichen Perücken, eine blonde Bubikopf-Fri- sur, die sie noch jünger aussehen ließ. Abgesehen von ihrer Angst war sie wieder ganz sie selbst, schön wie eh und je. Aber man hatte ver- sucht, sie bei lebendigem Leib zu verbrennen. Wer sollte so etwas tun? Wenn es die anderen Hüter gewesen waren, bestand eigentlich kein Grund zur Sorge. Hüter jagten einander nicht. Sie stritten und kämpften gelegentlich, aber ihre Auseinandersetzungen endeten nie- mals tödlich.
Konnte es ein Mensch gewesen sein? Und wenn ja, welche Art Men- sch wäre zu etwas Derartigem imstande?
Sarah erwachte im Morgengrauen aus ihrem betäubenden Opium- schlaf. Sie fühlte sich schrecklich, ihr Magen war voller Säure, ihre Glieder schmerzten, ihr Herz raste. Sie kannte diese Symptome nur zu gut: Miriams Blut – diese seltsame Andersartigkeit in ihr – schien sie vor Hunger buchstäblich zu zerfressen.
Die Symptome ähnelten denen einer schweren Virusinfektion, denn ihr Immunsystem bekämpfte den Teil in ihr, der ihren eigenen Organis- mus angriff. Bald würde sie Fieber bekommen und wenig später ins Delirium fallen. Danach kam der Todesschlaf im Sarg. Sarah brauchte frisches Menschenblut, und zwar sofort.
Sie war überrascht, als sie in der Küche mehr als zwei Stimmen hörte. Es war höchst ungewöhnlich, zu dieser frühen Stunde – es war kurz vor sechs – einen Fremden im Haus zu haben.
Sarah trat in die Küche. Sie sah Miriam und Leo eine abgerissen aussehende alte Frau bewirten, die einen schäbigen Mantel und einen Schal trug und nach Schweiß und Ammoniak stank. Als Ärztin er- kannte Sarah sofort, dass die Frau schlecht aß und zu viel trank – ge- nau genommen war sie auch jetzt leicht betrunken –, dass sie unter unbehandeltem Hautkrebs litt und dass der Grund, weshalb ihr rechtes Augenlid schlaff herunterhing, vermutlich ein unerkannter Schlaganfall war.
Unter ihren Füßen spürte Sarah das Rumpeln des großen Heizofens,
in dem sie die Überreste ihrer Opfer verbrannten.
Die Frau war etwa sechzig, offensichtlich eine Obdachlose. Sie stopfte sich gierig Leos Rhabarberkuchen in den Mund. Leo konnte hervorragend backen und köstliches Pfefferhuhn zubereiten. Ihre Är- mel waren hochgerollt. In der Gesäßtasche ihrer Jeans steckten Hand- schellen.
Sarah war perplex. Leo durfte mitmachen! Leo! Hatte Miriam den Verstand verloren? Derlei Dinge waren Hütern und ihren Blutsgefähr- ten vorbehalten. Leo hatte hierbei nichts zu suchen.
»Hallo«, sagte Leo freundlich. »Ich habe besorgt, was du so drin- gend brauchst.«
Sarahs Blick wanderte zu Miriam, die an der Spüle lehnte und sie aus ihren kristallenen Augen ansah. »Mach es jetzt gleich«, murmelte sie.
»Noch etwas Milch?«, fragte Leo die Frau.
»Klar doch«, antwortete diese.
»Miri«, sagte Sarah. Sie deutete mit einem Nicken auf Leo. Man speiste nicht vor einem von denen. Auf keinen Fall!
Leo trat hinter die Frau, um, wie diese glaubte, die Milch aus dem Kühlschrank zu holen. Als sie zum Schein die Kühlschranktür öffnete, zog sie eine mit kleinen Eisenkugeln gefüllte Socke aus ihrer Jeans. Sie
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