Whitley Strieber
aber methodisch, mit derselben Entschlossenheit, die ihn heute noch antrieb. Er war in der Lage, hinter der augenblicklichen Tragödie den Sinn und Zweck seines Handelns zu erkennen. Er hatte kambodschanischen Kindern Stromdrähte an die Genitalien gehalten, um die Informationen zu bekommen, die Amerikanern das Leben ge- rettet hatten. Waren die Mütter und Ehefrauen, deren Männer und Söhne unverletzt heimgekehrt waren, der Meinung, er hätte das Falsche getan?
Er wechselte den Bus und fuhr mit dem neuen zum Bahnhof. Er ging zum Zeitungsstand, kaufte einige Magazine und erwarb anschließend eine Fahrkarte für den Metroliner um 16:45.
Es bestand nach wie vor die Möglichkeit, dass der Bahnhof obser- viert wurde, deswegen ging er auf die Herrentoilette, schloss sich dort ein und las. Männer kamen und gingen, um ihn herum rauschten die Toilettenspülungen. Er las einen Artikel über die Elch-Jagd, danach blätterte er zum Anzeigenteil weiter. Die Wiesen-und-Bach-Sektion er- innerte ihn immer an seinen letzten Jagdausflug mit seinem Vater. Sie waren auf den Chattaminimi-Hügel gestiegen und hatten während des Sonnenaufgangs einen so großen Rehbock gesehen, dass ihm vor Schreck fast das Herz stehen geblieben war. Das war etwa zwei Wo- chen vor Dads Verschwinden gewesen. Zu dem Zeitpunkt hatte der Vampir ihn bestimmt schon beobachtet. Wahrscheinlich hatte er wäh- rend des Ausflugs nur wenige Meter neben ihnen gestanden und sein künftiges Opfer ausgekundschaftet. »Was ist das für ein Geruch?«, hatte der junge Paul gefragt. »Fledermäuse«, hatte sein Dad geant- wortet. »Weiter oben sind jede Menge Fledermaus-Höhlen.« Es war keine Fledermaus gewesen.
Er wartete bis 16:42, dann verließ er die Herrentoilette und rannte durch die Bahnhofshalle. Dies würde Bewegung unter seinen Beob- achtern verursachen, wenn tatsächlich welche auf der Lauer lagen. Er wusste, wie man diese Burschen enttarnte.
Niemand folgte ihm, und um ein Haar hätte er auch noch den ver- dammten Zug verpasst. Er ging in den Club-Wagen, fand seinen Platz, setzte sich und schlug das nächste Magazin auf, die Newsweek. Wäh- rend er so tat, als würde er lesen, nahm er unauffällig die anderen Passagiere in Augenschein: eine Frau mit zwei jungen Töchtern, ei- nige Geschäftsleute und ein Touristenpaar, vermutlich aus Ost-Eu-
ropa. Jeder dieser Leute konnte ein Agent sein, der bereits im Zug ge- sessen hatte. Besonders interessierte ihn die Mutter. Es wäre ziemlich gerissen, so vorzugehen, gerade wenn das Zielobjekt ein Profi war. Trotzdem, er glaubte nicht, dass sie ihn verfolgten oder sich bereits in seiner unmittelbaren Nähe befanden. Er nahm an, dass es noch eine gute Woche dauern würde, bis sein Gesicht auf Fahndungsplaka- ten auftauchte. Vermutlich würden sie behaupten, er sei ein Serien- mörder oder etwas in der Art. Auf diese Weise würde die Polizei im ganzen Land nach ihm Ausschau halten.
Er sah aus dem Fenster. Dies war sein Amerika, das an ihm vorüber- glitt, das Amerika der sanft geschwungenen Hügel, der blitzsauberen Vorstädte und der rostigen alten Fabriken, die sich entlang der Bahn- gleise aneinander reihten. Er erinnerte sich an eine lange zurücklie- gende Zeit, als auf der Strecke noch die New York Central-Eisenbahn fuhr und die Waggons noch olivgrün waren. Auf dieser Strecke war er zum ersten Mal nach New York gefahren, wo er mit verquollenen Au- gen und fünfzehn zusammengeknüllten Dollar in der Hosentasche in der Penn Station ausgestiegen war. Er hatte im Taft Hotel in der Sie- benten Avenue gewohnt, zusammen mit drei anderen Burschen vom College.
Bei jener Reise hatte er zum ersten Mal ein wirklich bemerkenswer- tes Gemälde gesehen, Van Goghs Sternennacht im Museum of Mo- dern Art. Ebenso hatte er während dieser Reise seine erste Oper ge- hört, Turandot, die von einer grausamen Prinzessin in einem mondbe- schienenen Palast handelte.
Damals war er ein Mensch gewesen – ein junger Mensch, der ge- rade die Welt entdeckte. Er hatte, frisch wie Morgentau, seinen ersten Drink genommen, seine erste Zigarette geraucht und nachts im Bett an Connie Bell gedacht.
Heute war dieser Paul Ward eine Tötungsmaschine. Er hatte die Fä- higkeit verloren, eine Frau lieben zu können. Er konnte noch Sex ha- ben und tat es, wann immer ihm der Sinn danach stand, entweder mit Prostituierten oder mit einer gelegentlichen Eine-Nacht-Affäre. Aber Liebe? Nein. Dieser Teil seines Herzens war erloschen wie ein ver- glühter
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