Whitley Strieber
es kaum, an ihn zu denken, denn manchmal schien es, als könnte Miriam Gedanken lesen. Aber er war ein Teil von ihr, und sie würden sich gewiss im Jenseits wiedersehen, wenn ihre Seele je- mals dem Gefängnis ihres Daseins entfliehen konnte.
Mit einigen Mausklicks stellte sie das Foto in die geheime Datei zu- rück. Miriam setzte sich nie an ihren Computer. Aber irgendwann würde sie es vielleicht doch tun, und sie kannte sich mit Computern bestens aus. Sarah wagte gar nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn Miriam das Foto entdeckte.
Wenn Miriam bewusst wurde, wie ausgeprägt Sarahs innere Rebel- lion war, würde sie sie zweifellos auf den Dachboden verbannen. Sie blickte auf die kleine Tür in der Wand. Von dort gelangte man nach oben.
Sie wusste, dass sie ihre Lanzette aus der Schublade nehmen und sofort nach unten gehen sollte, denn sie war ohnehin schon zu lange fort, stattdessen aber starrte sie auf die Tür.
Es tat ihrer Seele gut, hin und wieder auf den Dachboden zu gehen. Obwohl die Gegenwart der Anderen bedrückend war ... und dann war da noch diese Sache mit John Blaylock.
Sie legte die Hand auf die Türklinke und drückte sie herunter. Die
dunklen Stufen führten steil nach oben. Sie nahm die ersten, zögerte einen Augenblick, dann ging sie eilig hoch.
Vor ihr lag ein von ovalen Fenstern spärlich erhellter Raum. Seine Weitläufigkeit strahlte beinahe etwas Aristokratisches aus. Der Dach- boden verlief über die gesamte Breite des Gebäudes und war somit der größte Raum im Haus.
Fledermäuse tummelten sich auf den Dachbalken, von denen uralte Messinglaternen herunterhingen. Hier oben waren nie Stromleitungen gelegt worden.
Dort standen die Särge, die die unfassbare Selbstsucht und die uner- schütterliche Überzeugung ihrer Herrin versinnbildlichten, dass ihre ei- genen Rechte mehr als die anderer Lebewesen galten. Und dort drü- ben stand der graue, noch immer recht neu aussehende Stahlsarg. Sie trat zu ihm hinüber und hob den Deckel. Dies war der Sarg, in den Miriam sie nach ihrem vermeintlichen Tod gelegt hatte. Sie strich mit den Fingern über das weiße Satin, berührte das kleine Kissen, auf dem ihr Kopf geruht hatte.
Hier hatte sie den Tod kennen gelernt, und hier war sie wieder zum Leben erweckt worden. Dieser Sarg, fand sie, war ihr wirkliches Zu- hause. Er war das Zentrum ihrer Realität und ihres Wesens. Und eines Tages würde sie in ihn zurückkehren. Aber sie kam auch so immer wieder hierher, wenn Miriam nach einer Mahlzeit im Tiefschlaf lag oder – wie gerade jetzt – anderweitig beschäftigt war. Dann pflegte Sarah sich hineinzulegen, den Deckel zu schließen und so lange in der voll- kommenen Dunkelheit auszuharren, bis die Luft knapp wurde und sie hinausklettern musste.
Sich in den Sarg zu legen, war eine zutiefst befriedigende Erfahrung. Wenn sie den Deckel schloss, war es, als würde frisches Quellwasser auf ihre brennende, geschundene Seele niederplätschern.
Am liebsten hätte sie sich in diesem Augenblick hineingelegt. Aber sie musste nach unten. Sie musste die Lanzette holen. Ihr Opfer war- tete darauf, seines Lebens beraubt zu werden.
Aus tränenschimmernden Augen blickte sie zur gegenüberliegenden Wand, auf den Sarg, den Miriam regelmäßig besuchte. Darin lag John Blaylock. Was Miri nicht wusste, war, dass Sarah den Sarg selbst öff- nete ... und genau dies beabsichtigte sie nun zu tun.
Sie trat an den Sarg und hob den Deckel. Ein vertrauter, trocken- würziger Geruch stieg auf. Die besonders schmale Leiche trug einen schwarzen Frack mit einem Stehkragen. Der Hals war dünn und das
Gesicht aufgrund von Nekrose und zwanzigjähriger Austrocknung völ- lig eingefallen.
Die Lippen waren zurückgezogen, das Gebiss leicht geöffnet. Die Leiche schnitt eine Grimasse – eine Grimasse, die eine eigenartig le- bendige Qualität hatte und es einem schwer machte, das Gesicht lange anzusehen. Denn dies war keine gewöhnliche Leiche. Dies war ein lebender Toter.
Sie berührte die knöchrige Hand des Untoten, dann beugte sie sich in den Sarg und hauchte ihm einen Kuss auf die eingefallene, kno- chentrockene Wange. »Ich mache Fortschritte, John«, flüsterte sie. »Es dauert eine Ewigkeit, ich weiß, aber ich komme Schritt für Schritt voran.«
Mit der Langsamkeit eines Stundenzeigers schlossen sich die Finger der Leiche um ihre Hand. Hätte sie zwei oder drei Stunden Zeit ge- habt, hätte John Blaylock sie irgendwann mit bemerkenswerter Kraft festgehalten.
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