Whitley Strieber
umbringen! Niemals, Sarah.«
»Du musst.«
»Ich habe keine andere Wahl, oder?«
»Nein.«
Leo fing an zu weinen. Sarah, die die Hoffnungslosigkeit der jungen Frau genauestens nachempfinden konnte, nahm sie in die Arme. Leo klammerte sich an sie. »Es tut so weh, Sarah. Es tut so schrecklich weh!«
»Eine frische Blutmahlzeit wird das ändern.«
Leo wurde aschfahl. »Ich werde mich umbringen«, sagte sie. Sarah schwieg. Sie hatte Leo noch nicht den Dachboden gezeigt. Am besten, sie wartete damit noch einige Tage.
»Was soll ich tun, Sarah?«
»Leo, der Mann dort drin ist ein Monster. Er hat hunderte von Hütern umgebracht, und wenn er herausfindet, was Miri ist, wird er auch sie umbringen.«
»Sie wird nicht zulassen, dass er es herausfindet.«
»Die beiden liegen miteinander im Bett und erkunden stundenlang ihre nackten Körper. Er weiß, wie ein Hüter aussieht – er kann jeden Augenblick die verräterischen Merkmale entdecken.« Sie deutete auf die Magnum. »Diese Waffe ist mit Explosivgeschossen geladen. Sie pusten einem das Hirn aus dem Schädel oder reißen einem das Herz aus der Brust. Das Einzige, was Miriams Organismus nicht überleben kann, ist ein Stillstand des Blutflusses. Solange das Blut zirkuliert, wird sie immer genesen. Das weiß er. Er weiß genau, wie man einen Hüter tötet.«
»Ich hatte ein nettes Leben. Ich hatte mein Loft und mein kleines Boot und meine Freunde – ein paar wenigstens –, und ich sammelte Werke von abgefahrenen Künstlern wie den Starn-Brüdern und John Currin ... aber meine Abende habe ich zuhause verbracht, oder ich bin allein in irgendwelche Clubs gegangen und habe versucht, inter-
essante Leute kennen zu lernen. Aber niemand wollte mich. Ich war immer eine Außenseiterin ... bis sich plötzlich Miriam Blaylock für mich zu interessieren begann. Für mich! Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, Sarah.« Sie schluckte beklommen.
Es sprach für sie, dass sie nicht zusammenbrach, fand Sarah. Sie hob den Kopf, schob energisch das Kinn vor und sagte: »Es liegt auf der Hand, was wir tun müssen.«
»Das sagst du so leicht.«
Sie holte die Lanzette heraus und gab sie Sarah. »Du weißt, wie man damit umgeht; ich nicht.«
Sarah klappte die Lanzette auf. »Man sticht das gebogene Ende in die Vene und schlitzt sie mit einem kurzen Ruck auf. Das Blut läuft heraus. Man legt den Mund an den Einschnitt und trinkt so schnell man kann.«
»Was wenn ich mich übergeben muss?«
»Das wirst du nicht. Du hast einen halben Liter von Miris Blut in den Adern. Wenn du speist, ist es so, als würdest du die stärkste Droge der Welt einnehmen. Dagegen kommt einem selbst das reinste Heroin wie Aspirin vor.«
»Er wird ausflippen, wenn ich ihn steche. Ich meine, er merkt es doch, Sarah.«
»Ich werde den Einschnitt machen. Du musst nur noch den Mund an die Wunde legen und so kräftig wie möglich saugen.«
»Er wird sich wehren.«
»Das wird nicht passieren, wenn du schnell bist. Sie verlieren nach wenigen Sekunden das Bewusstsein.«
»Mach du es lieber.«
»Aber du brauchst Nahrung! Wenn du nichts zu dir nimmst, wird ihr Blut anfangen, dich zu zerstören. Es wird wie ein Schock über dich kommen.«
»Kann ich daran sterben?« Sie klang tatsächlich hoffnungsvoll, als wäre der bloße Gedanke an den Tod schon eine große Erleichterung für sie. Sarah dachte an das, was auf dem Dachboden stand. »Bei der Nahrungsaufnahme saugt man zuerst das gesamte Blut aus dem Hirn. Er wird nicht einmal Gelegenheit zum Schreien haben.« Leo sah sie mit dem Blick einer kleinen Schwester an, und Sarah merkte, dass sich ihre Empfindungen über das Mädchen wandelten. Sie drückte Leos Hand, versuchte ihr Mut zu machen. »Du wirst es perfekt hinbekommen. Der schwierige Teil ist der Einschnitt, und das
mache ich.«
»Es ist still geworden«, sagte Leo mit Blick auf Miriams geschlos- sene Schlafzimmertür.
»Er schläft.«
»Sie nicht?«
»Nein.«
Miri schlief nur, nachdem sie gespeist hatte. Da dies nicht der Fall war, würde sie die ganze Zeit wach sein.
»Bleib an der Tür stehen, Leo. Komm erst auf mein Zeichen herein.« Sarah ging in das Schlafzimmer, die Lanzette in ihrer Bluse verbor- gen. Paul wirkte komatös wie eine mit Mäusen vollgefressene Schlange. Miri kuschelte sich an ihn wie ein Schulmädchen an seinen ersten Freund.
Sie sah so glücklich aus, die Augen geschlossen, das Gesicht völlig entspannt.
Als Miri Sarah hereinkommen hörte, lächelte sie ihr versonnen zu. Sarah
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