Whitley Strieber
Perfomance-Künstler gewesen. Seine Familie war reich, aber stockkonservativ. Offenbar hatte er sich von ihr losgesagt. Sie war zutiefst verwirrt. Aber sie war auch verzweifelt. Sie stürzte sich auf ihn, packte den Griff der Lanzette und versuchte, sie ihm aus dem Hals zu reißen. Die Klinge kam zur Hälfte heraus, gefolgt von glibbrigen Fleischfetzen und hervorquillendem Blut.
Sie saugte sich an ihm fest wie ein ausgehungerter Blutegel. Sein köstlicher Lebenssaft schien fast von alleine in sie hineinzulaufen und durch ihre Kehle in den Magen hinabzurinnen. Benno taumelte wild um sich schlagend hin und her, während seine frühere Mitschülerin ihm unbegreiflicherweise das Leben aus dem Leib saugte.
Er sank wie ein angestochener Stier auf die Knie. Sie stieß ihn um, zog seinen Kopf auf ihren Schoß und drehte seinen Hals so, dass sie bequem herankam. Dann legte sie die Lippen um den sprudelnden Blutquell und saugte mit aller Kraft. Plötzlich hörte sie ihn kaum ver- nehmbar flüstern: »Leo?«
Sie presste alle Luft aus der Lunge und saugte weiter. Dann setzte sie ein drittes Mal an, bekam aber deutlich weniger Blut. Beim vierten Mal kam so gut wie gar nichts mehr.
Doch er war weder dünner noch leichter geworden. Er sah noch im- mer völlig normal aus – dafür dass er tot war. Sie versuchte es von neuem, saugte mit aller Kraft.
Nichts geschah. Sie ließ von ihm ab. Nur Miriam konnte ihre Opfer vollständig aussaugen, sodass nur noch ein mit Knochen gefüllter Hautsack übrig blieb. Er war zu schwer, um ihn nach Hause zu tragen. Die Leiche fühlte sich an wie ein Sack voll Blei.
Dann sah sie in einiger Entfernung einen Mann auf der Promenade, der ungefähr zehn Hunde ausführte. Er kam in ihre Richtung, und die Hunde waren schon jetzt völlig von Sinnen. Der Mann war nicht zu ver- stehen, aber man sah, dass er die Tiere anbrüllte. Die Hunde bellten und kläfften und scharrten so heftig mit den Pfoten, dass eine Staub- wolke aufwirbelte. Es sah aus, als würden sie Abgase ausstoßen. Es gelang ihr, Benno zum Geländer zu schleifen, ihn hochzuwuchten
und in den East River zu werfen. Dann rannte sie fort, und während ihre Füße über den Boden zu fliegen schienen, begann sie, sich wun- dervoll zu fühlen.
Hinter ihr fraßen die Hunde die blutigen Fleischfetzen aus Bennos Hals auf, die sie in der Eile liegen gelassen hatte. Nun konnte sie auch den Hundeführer hören, der sich vor Wut heiser schrie.
Ihr Körper schien fast vom Boden abzuheben. Sie konnte nach Lei- beskräften rennen, ohne die geringste Erschöpfung zu spüren. Es fühlte sich an, als befinde sich noch jemand anderes in ihr, ein zweites Lebewesen, das nicht sie selbst war, das es aber gut mit ihr meinte und das gleichzeitig ein Teil von ihr zu sein schien. Es war ein großar- tiges, ein berauschendes Gefühl, so als hätte man seinen eigenen En- gel im Leib.
Sie sah nicht die einsame Gestalt auf der Anhöhe, die Miriams Straße vom Roosevelt-Drive trennte, die Gestalt, die alles beobachtet hatte. Sie sah nicht, wie die Gestalt ein kleines Gerät einsteckte, viel- leicht ein Fernglas oder eine Kamera.
Sie sah nicht, wie die Gestalt in ein Auto stieg und sich rasch in den New Yorker Abendverkehr einfädelte.
19
Gefangen
Miriam rannte wie von Sinnen durch das Haus und schrie mit krei- schender Stimme nach Leo. Sarah war entsetzt. Sie hatte ihre Herrin noch nie so gesehen. Miriams Wut grenzte an Wahnsinn; anders ließ sich ihr Verhalten nicht beschreiben. Dann funkelten ihre unmenschli- chen Augen plötzlich Sarah an.
»Miri, bitte beruhige dich. Bitte, Miri!«
Miriam stürmte durch das Wohnzimmer, packte sie und schubste sie an die Wand. »Wo, zum Teufel, warst du?«
»Ich war die ganze Zeit hier, Miri!«
»Du hast sie rausgelassen! Du achtloses, dummes ...«
Sie schlug Sarah so hart ins Gesicht, dass diese stürzte. Dann warf Miriam sich schreiend auf sie, schüttelte sie und stieß immer wieder ih- ren Kopf auf den Boden. Sarah sah Sterne vor Augen; alles drehte sich; Miriam hörte einfach nicht auf zu schreien.
Sie sprang mit einer geschmeidigen Bewegung auf und starrte böse auf Sarah herab. Dann warf sie sich mit glänzenden Augen wieder auf sie, ihre schmalen Lippen so eigenartig verzogen, dass Sarah nicht einmal andeutungsweise wusste, was dieser Ausdruck bedeuten mochte.
Sie küsste Sarah. Dann half sie ihr auf die Beine und führte sie zu ei- nem Stuhl. Sie kniete vor ihr nieder und hauchte Küsse auf ihre Hände. »Es
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