Whitley Strieber
als würde sie gleich hin- fallen. Instinktiv sprang die Frau von ihrem Stuhl auf, um ihr zu Hilfe zu eilen. Miriam packte sie und zog sie hinter den Webstuhl, presste den Mund an ihren Hals und saugte ihr mit einem kräftigen Ruck alle Kör- perflüssigkeiten aus dem Leib; zwei große Schlucke genügten, dann war es vorbei.
Ihr Körper schien vor Freude wahre Luftsprünge zu vollführen; sie fühlte sich fast, als würde sie fliegen. Sie musste sich zwingen, vor Glück nicht laut aufzuschreien, so berauschend war das Gefühl. Ein elektrisches Kribbeln fuhr ihr von der Schädeldecke bis in die Zehen- spitzen, als ihr aufgefrischtes Blut sich eilends daranmachte, ihre Brandwunden zu schließen.
Das Kribbeln wirkte so überwältigend, dass sie benommen auf die Knie sank. Sie sackte stöhnend nach vorne, ihr Körper bebend wie bei einem nicht enden wollenden Orgasmus. Das Kribbeln wurde immer stärker, während die Stimmen und die trippelnden Schritte näher ka- men.
Sie packte die in seinem Kleiderbündel zusammengefallenen Über- reste ihres Opfers und zog sie zu sich heran. Während sie das ver- trocknete, ausgesaugte Etwas entkleidete, vernahm sie plötzlich lautes Gelächter. Der Touristenführer hatte etwas gesagt, das seine Zuhörer erheiterte. Die anderen Webstühle ratterten ununterbrochen weiter. Mi- riam zog hastig die Sachen an – eine schwarze Jeans, einen schwar- zen Rollkragenpullover und Schuhe, die ihr leider nicht besonders gut passten. Dann den blauen Arbeitskittel. Keine Kopfbedeckung, und dies war schlecht, denn es würde eine Weile dauern, bis ihre Haare nachgewachsen waren. Sie brauchte eine Perücke, doch die gab es hier nicht. Sie stand auf.
»Noelle?«
Es war der Touristenführer, der sich fragte, weshalb sie nicht an ih- rem Webstuhl saß. Natürlich wusste er genau, wie die Weberin aus- sah.
»Noelle, was machst du? Was tust du dort hinten?«
Sie durfte nichts sagen. Sie hatte keine Ahnung, wie Noelles Stimme klang. Wenn er hinter den Webstuhl kam, würde sich ihm ein unglaub- licher Anblick bieten – ein mit Haut überzogenes Skelett und daneben ein völlig haarloses Geschöpf mit rosig leuchtendem Gesicht. Die Ver- brennungen waren vermutlich noch zu erkennen, und wahrscheinlich sah sie völlig grotesk aus. Sie nahm die Überreste ihres Opfers und zermalmte sie. Das Knacken und Bersten der Knochen klang beängsti- gend.
»Noelle!«
»Ich repariere den Webstuhl!«
»Wer ist dort?«
»Ich bin's! Wer sonst?«
Der Mann setzte seine Führung fort, aber sein Tonfall sagte ihr, dass ihre Erklärung ihn nicht zufrieden gestellt hatte und er nicht so recht verstand, was hier vorging. Er würde bestimmt gleich einen Kollegen herschicken.
Sie hielt sich im Schatten der Webstühle verborgen, um nicht von den Arbeiterinnen oder der Touristengruppe gesehen zu werden, und eilte zu der Tür zurück. Sie huschte hindurch und lief in den Heizraum hinunter. Sie ging zu dem Heizofen, öffnete das Sperrgitter und stopfte die zermalmten Überreste ihres Opfers hinein. Sie würde nie wieder so dumm sein und eine dieser Visitenkarten zurücklassen. In dieser neuen Welt voller sowohl aggressiver als auch intelligenter Menschen würde ihr nächster Fehler ihr letzter sein.
Sie suchte nach einer Tür, die auf die Straße hinausführte, und ent- deckte eine, auf der Sortie stand; darüber leuchtete ein rotes Lämp- chen. Sie ging hinaus und fand sich in einer engen Gasse wieder. In einer Richtung befand sich eine kahle, hohe Betonmauer, die andere führte in eine ruhige Nebenstraße. Es war mittlerweile früher Abend, und allmählich wurden die Schatten länger.
Ihr fiel sofort der merkwürdig flackernde Lichteffekt an den Haus- fassaden in der vor ihr liegenden Straße auf. Jedes Mal, wenn das Fla- ckern heller wurde, ertönte ein lautes Krachen.
Sie ging vorsichtig darauf zu, denn sie wusste, dass sie in diese Straße musste, um zu entkommen. Je näher sie kam, desto heller wurde das Flackern und desto lauter das Krachen. Nun roch sie auch brennendes Benzin. Das Flackern fand auf ihrer schwarzen Kleidung einen Widerschein. Sie streckte die Hände aus und sah den auf ihnen
tanzenden orangenen Lichtschein. Dann trat sie in die Straße hinaus und wandte sich augenblicklich nach links, hin zu der Lichtquelle. Das Erste, was sie sah, war die Ruine des Hauses ihrer Mutter. Das Schloss der Weißen Königin war rußgeschwärzt, die Fenster waren zerschmettert, das Dach eingestürzt.
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