Whitley Strieber
Augenblick verzögern.
Nachdem sie sich nun gestärkt hatte, wollte ihr Körper nur noch schlafen. Sie wusste, dass es der unendlich tiefe Schlaf ihrer Rasse sein würde und dass sie einen Ort finden musste, an dem sie sich für die Stunden, in denen sie völlig hilflos sein würde, beruhigt hinlegen konnte. Aber sie konnte es sich nicht leisten. Sie hatte eine dringende Mission zu erfüllen. Die französischen Hüter mussten gewarnt und de- ren Buch der Namen geschützt werden.
Sie ging eilig die Straße hinunter. Sie würde sich irgendwo ein Hotel- zimmer nehmen und die Kreditkarte der Weberin benutzen, die sie in deren Portemonnaie gefunden hatte. Oder nein, sie hatte eine bessere Idee. Sie konnte in die Wohnung der Frau gehen. Es war natürlich ein Risiko, aber sie hatte ja die Schlüssel und den Führerschein mit der Wohnungsadresse.
Ein Stück die Straße hinunter sah sie ein Taxi. Sie winkte es mit ei- ner lässigen Geste heran, so wie sie es die Menschen hatte tun sehen. Außerdem würde sie, so gut es ging, ihr Französisch den neuen Zeiten anpassen. Jeder Narr würde sich an einen Fahrgast erinnern, der wie Voltaire redete.
Als sie in das Taxi stieg, klappte sie das Portemonnaie auf. Noelle Halff, 13 Rue Léon Maurice de Nordmann. »Treize Rue L. M. Nor- mann«, murmelte sie, wie ein moderner Pariser nuschelnd.
Der Fahrer verzog ein wenig das Gesicht, dann fuhr er los. An der nächsten Ecke bog er in den Boulevard Arago, und schon waren sie da. Es war idiotisch gewesen, ein Taxi zu nehmen. Die Wohnung war kaum vierhundert Meter entfernt. »Ich habe mir den Fuß verdreht«, sagte sie, als er vor einem wunderschönen Künstler-Atelier hielt. »Tut mir Leid für Sie«, antwortete er, als er das Geld entgegennahm. Offenbar hatte sie es perfekt hinbekommen. Ihm war nichts an ihr auf- gefallen. Vielleicht war es für Pariser Frauen nicht ungewöhnlich, sich den Schädel zu rasieren. Vermutlich ein neuer Modetrend.
Sie suchte in der Handtasche nach den Schlüsseln und fand ein Bund. Vier Stück hingen daran, und anstatt das Schloss mit Gewalt öffnen zu müssen, fand sie auf Anhieb den richtigen. Sie verschaffte sich Einlass und schaltete im Foyer das Licht ein. Während der Zeit- schalter summte, suchte sie die Wohnungstür mit Noelles Namens- schild, fand den entsprechenden Schlüssel und betrat die Atelierwoh- nung.
Im Wohnzimmer stand ein weiterer Gobelin-Webstuhl, und überall
stapelten sich Wandteppiche, mittelalterliche Reproduktionen, die die Frau vermutlich auf den Touristenmärkten verkauft hatte.
»Hallo«, rief sie. Keine Antwort. Sie ging durch das Wohnzimmer in eine kleine Küche und in das angrenzende, ebenso kleine salle de bains et toilette. Zum Schlafen gab es ein winziges couchette, das auf der anderen Seite des Wohnzimmers lag.
Sie suchte im Toilettenschrank nach Make-up und versuchte dabei auch festzustellen, ob mehr als eine Person in der Wohnung lebte. Sie entdeckte einen Rasierapparat und zwei Zahnbürsten.
Plötzlich bemerkte sie im Schatten vor sich eine Bewegung, sah eine merkwürdige dunkle Gestalt. Sie sprang mit hochgerissenen Armen aus dem kleinen Badezimmer zurück, bereit, sich zu verteidigen. Doch niemand stürzte sich auf sie. Die einzig vernehmbaren Ge- räusche waren ihre Atemzüge und das Tropfen des Wasserhahns. Sie schaltete das Licht ein und erblickte im Badezimmerspiegel eine so grundlegend veränderte Miriam Blaylock, dass sie sich selbst für eine Fremde gehalten hatte. Der Kopf war völlig kahl, das Gesicht ein- gefallen, die Augen glichen schwarzen Höhlen. Sie betastete ihre Wange, berührte die Haut. Sie sollte weich sein und rosig von dem fri- schen Menschenblut, das sie vor kurzem getrunken hatte. Aber ihr of- fenbarte sich eine weitere Überraschung. Sie war nicht totenbleich, sondern mit feiner grauer Asche bedeckt. Die äußeren Schichten ihrer Haut mussten verkohlt worden sein, zumindest im Gesicht.
Sie wusch es mit kaltem Wasser ab und tupfte es mit einem Papier- tuch trocken. Danach war das Tuch dunkelgrau. Im Waschbecken schwamm graue Asche. Sie zog ihre Kleidung aus und betrachtete ih- ren Körper. Sie hatte sich schwerer verletzt, als ihr bewusst gewesen war. Breite Risse, in denen das rohe Fleisch schimmerte, durchzogen ihre Haut. Ihre Hüften waren fast bis auf die Knochen abgeschürft. An einer Stelle konnte sie tatsächlich ein Stück ihres Hüftknochens erken- nen.
Sie beschloss, ein Bad zu nehmen, und sah zu, wie das dampfende Wasser in
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