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Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Kuss des Vampirs
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ihr helfen ... Aber würde es für die vor ihr liegende Aufgabe ausreichen?
    Um weiter voranzukommen, musste sie mühevoll ihre Arme vor den Kopf bringen und sich mit den Füßen kräftig gegen die Schachtwand stemmen. Nach einigen Augenblicken schoben sich ihre Knochen ein Stück zusammen, sodass sie einige Zentimeter weiterkriechen konnte. Sollte der Schacht noch enger werden, säße sie fest.
    Da sie sich bewegt hatte, wogte das Wasser hin und her und spülte alte Kohlebrocken und Asche heran. Sie drückte sich mit aller Kraft nach vorne, doch nichts geschah.
    Was wenn sie hier nicht mehr herauskam? Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie drückte immer stärker. Und noch stärker. Nichts ge- schah. Sie spürte, wie die Mühsal ihre Zunge anschwellen ließ. Ihre Knochen mahlten und knackten. Ihre Zunge schob sich an dem Ra- chenknorpel vorbei, der beim Bluttrinken die Luftröhre verschloss. Noch immer geschah nichts, nichts, nichts! Und dann – schlimmer noch – erklangen laute Stimmen. Ja, die Menschen waren im Keller und sprachen darüber, wie langsam das Wasser abfloss. Natürlich, sie

mussten die Verstopfung beheben. Sie würden in dem Schacht ein seltsam verwachsenes Wesen finden, das vor ihren Augen wieder seine ursprüngliche Gestalt annahm, und damit hätten sie ein weiteres Geheimnis der Hüter entdeckt: Vampir-Knochen waren nicht zerbrech- lich, sondern biegsam.
    Wie würde man sie umbringen? Sie einäschern wie ihre Mutter? Ihr einen Pflock ins Herz rammen, bis ihr Blutfluss zum Stillstand kam, sie dann in einen Sarg legen und sterben lassen – was Jahre oder gar Jahrzehnte dauern konnte? Oder würden sie ihren Kopf zermalmen und sie in Säure auflösen?
    Plötzlich erklang ein Geräusch, und ein stechender Schmerz schoss ihre Wirbelsäule hoch. Im nächsten Augenblick rutschte sie ein gutes Stück durch den Schacht. Sie hätte vor Freude schreien können, so befreiend war das Gefühl, nicht mehr zusammengepresst zu werden. Wasser schoss von hinten über sie hinweg und spülte sie durch eine breite Öffnung. Wo sie sich nun befand, war es deutlich heller. Licht fiel durch Schlitze, die in regelmäßigen Abständen in die Decke ge- schlagen waren. Der Schacht war nun hoch genug, um sich hinzustel- len und durch die Schlitze zu spähen.
    Sie versuchte sich aufzusetzen. Sie war völlig erschöpft. Eine Ratte gab ihrem Körper nicht viel Kraft – sie würde bald neues Blut brau- chen, Menschenblut.
    Sie drückte sich mühevoll hoch, die Schmerzen in ihrem geschunde- nen Körper ignorierend. Endlich saß sie zusammengekauert da. Um durch einen Schlitz zu blicken, hätte sie aufstehen müssen, doch dies war unmöglich, solange sich ihre Knochen nicht zu ihrer ursprüngli- chen Länge ausgedehnt hatten. Sie zwang sich, es dennoch zu versu- chen und den Prozess, so gut sie konnte, zu beschleunigen. Schmer- zen rasten durch ihre Wirbelsäule, und sie musste sich auf die Lippen beißen, um die Schreie zu verschlucken, die aus ihrer Kehle drangen. Minuten verstrichen. Das Wasser, das in Kniehöhe an ihr vorbeige- schossen war, floss nun deutlich langsamer. Anstelle des fauligen Ge- stanks stieg ihr nun ein überraschender Duft in die Nase – der Duft fri- schen Quellwassers. Angehörige ihrer Rasse brauchten viel Wasser und tranken am liebsten ganz frisches. Sie roch eine saubere Kalk- steinquelle mitten in der Pariser Kanalisation. Behutsam einen Fuß vor den anderen setzend, ging sie in Richtung der Quelle. Sie sah, dass der Tunnel breiter wurde. Links und rechts von ihr lagen schlammige Ufer. Vor ihr glitten Schwärme winziger Fische durch das Wasser,

schwach leuchtend wie blasses Sternenlicht.
    Dieser wundervolle Strom, in dem sie sich völlig unerwartet wieder- fand, musste der alte Fluss Bièvre sein. Das Rumpeln über ihr war eine Straße. Und als es ihr endlich gelang, durch einen der Schlitze zu spähen, sah sie tatsächlich vorbeirollende Autoreifen. Während sie weiterging, wurde die Wasserqualität immer besser. Es war kein Ab- wasser mehr, sondern bloß das reine, seinem uralten Lauf folgende Flusswasser.
    Sie begann, nach der Quelle Ausschau zu halten. Sie musste sich ganz in der Nähe befinden. Sie konnte die wunderbare erdige Frische riechen. Zwanzig Schritte weiter fand sie sie, sah das fröhlich aus dem Boden sprudelnde Wasser. Darüber hatte jemand vor langer Zeit eine kleine Grotte in den Fels geschlagen und ein Kreuz hineingestellt, das heute völlig verrostet war. Sie legte sich in

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