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Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Kuss des Vampirs
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die große Wanne einlief. Als sie sich hineinsetzte, verfärbte die an ihrem Körper klebende Asche das Badewasser dunkelgrau, hellrot durchsetzt vom Blut aus ihren noch immer zahlreichen offenen Wunden.
    Kurz darauf begann ihr Körper vor Wohlbehagen zu kribbeln. Sie schloss die Augen. Oh, war das schön. Wie sehr sie sich nach Schlaf sehnte. Es wäre so leicht, in dem herrlich heißen Wasser einzudösen.

Nein! Nein, sie musste etwas schlucken, das sie wach hielt – Kaffee, Tabletten, irgendetwas –, und sie musste den Ausweis der Frau fin- den, bei einem Reisebüro anrufen, einen Flug nach New York buchen und danach sofort in das unterirdische Labyrinth hinabsteigen und die anderen Hüter warnen.
    Sie stieg aus der Badewanne und öffnete den Arzneischrank. Sie entdeckte drei Pillenbehälter – Vitamine und Kräutertabletten gegen Erkältungen, nichts Nützliches also. Die arme junge Frau war sehr ge- sundheitsbewusst gewesen und hatte nicht einmal die einfachsten Arz- neien in der Wohnung gehabt. Miriam hatte immer das Gefühl, etwas Kostbares vergeudet zu haben, wenn sie ein vitales junges Leben wie dieses zerstörte. Die Frau hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Sarah ge- habt.
    Sie hatte es aufgegeben, Sarah telefonisch erreichen zu wollen. Jetzt zählte nur noch, nach Hause zu gelangen. Sie befürchtete, dass die Katastrophe bereits den Atlantik überquert hatte und dass Sarah sich deswegen nicht meldete. Würde sie ihr wunderschönes Zuhause in Manhattan als niedergebrannte Ruine wieder finden, so wie das Schloss der Weißen Königin? War auch Sarah nur noch ein Haufen Asche? Sie wusste es nicht, und es gab keine Möglichkeit, es heraus- zufinden.
    Sie schaute in den Spiegel. Ihr Gesicht sah eigentlich nicht schlecht aus. Etwas Make-up hier und dort, ein bisschen Lippenstift – und sie konnte sich wieder als schöne Frau fühlen. Sie würde –
    Sie hielt inne. Wie der plötzliche Anbruch der Dunkelheit oder wie ein schwarzer Umhang, der sich auf sie herabsenkte, befiel sie auf einmal eine so tiefe Melancholie, dass nicht der gewohnte Zorn in ihr auf- wallte, sondern sie ihren Wert als lebendiges Geschöpf und sogar den Wert der Hüter als eine auf dieser Erde lebende Spezies in Frage stellte.
    Schau dich um, dachte sie, sieh dir das komplexe Leben an, das sich in dieser Atelierwohnung entfaltet hat, sieh dir die wunderschönen Wandteppiche an, wie die Farben im schwachen Abendlicht leuchten, das von der Straße hereinfällt. Sieh dir das eselsohrige Buch mit dem Lesezeichen an, ein Gedichtband, in dem Noelle Halff vor dem Ein- schlafen gelesen hat. Les Fleurs du Mal– »Die Blumen des Bösen«. Miriam kannte die Gedichte und bewunderte sie ebenfalls.
    Die Frau mochte keine Aufputschtabletten in ihrem Arzneischrank aufbewahrt haben, aber sie hatte eine Vielzahl hochwertiger Kosme-

tika besessen. Miriam begann sich zu schminken, begann ihrem Antlitz wieder das Aussehen der ewigen Jugend zu verleihen, die sich unter ihren Verbrennungen verbarg.
    Sie spürte, wie die Müdigkeit an ihrem Bewusstsein und ihren er- schöpften Muskeln nagte, spürte, wie ihre Knochen immer schwerer wurden. Sie schüttelte sich, ihre Augen glänzten wie in Trance. Selbst ohne Aufputschmittel würde sie nicht einschlafen. Sie konnte es nicht, und sie würde es nicht.
    Denn eines wusste sie genau: Wenn sie sich in dieser Wohnung hin- legte und einschlief, würde auch sie auf einem Scheiterhaufen enden.

9
    Die Messerwerferin
    In den Wandregalen lagen menschliche Schienbeinknochen, deren Gelenkhöcker zum Gang hin deuteten. Auf den oberen Brettern stapel- ten sich die Schädel der Toten. Paul hatte, wenn auch nur vage, vom Beinhaus des Denfert-Rochereau-Friedhofs gehört. Es galt als mor- bide Touristen-Attraktion, die vor allem von Horrorfilm-Fans besucht wurde. Für zehn Franc konnte man so viel Zeit, wie man wollte, mit den Gebeinen von sieben Millionen Parisern verbringen.
    »Was ist das für ein Geruch?«, fragte Becky.
    »Vielleicht eine frische Leiche.«
    »Vielen Dank, Charles.«
    »Hier werden keine Leichen aufbewahrt, nur ihre Gebeine«, sagte Colonel Bocage.
    Dennoch lag ein eigenartiger Geruch in der Luft, und Gerüche waren wichtig bei ihrem Handwerk. Paul rümpfte die Nase. Sie alle kannten den Gestank, den Vampire verbreiteten – die säuerlichen Ausdünstun- gen ihrer ungewaschenen Körper und den entsetzlichen Mief auf ihren Aborten. Dass es dort so stank, war kaum verwunderlich, denn schließlich bestanden ihre

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