Whitley Strieber
Sie konnte nicht an der Fassade herunterklettern, nicht im hellen Tageslicht. Auf das Dach des angrenzenden Gebäudes konnte sie auch nicht sprin- gen; es war zu weit entfernt. Aber sie hatte einen Ausweg gefunden. Sie fand immer einen Ausweg. Sie war durch den Schornsteinschacht zum Kaminboden im Kellergeschoss hinuntergeklettert, wo sie sich un- mittelbar unter der lodernden Feuersbrunst befand. Als sie, mit Ruß bedeckt, herauskroch, war über ihr die Decke eingestürzt. Ein lodern- des Flammenmeer hatte sie eingeschlossen, und mit den Flammen war der Schmerz gekommen.
An der Rückwand des Kaminbodens befand sich die schmale Öff- nung eines Abwasserschachts, in den von oben die Asche hineingerie- selt war. Sie hatte einige Ziegelsteine herausgezogen, sich in das nun kaum vierzig Zentimeter breite Loch gezwängt und sich dabei fast die
Gelenke zermalmt.
Sie lag mit geschlossenen Augen da und zwang sich, nicht vor Schmerz zu schreien. Wenn sie die Augen öffnete, sah sie wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht nur feuchte, schimmlige Ziegelsteine. Als sie in den Schacht gekrochen war, hatte sie Martins fürchterliche Schreie gehört. Das Einzige, was die Nahrung bewirkte, die sie ihm gebracht hatte, war, ihm so viel Kraft zu geben, dass er elendig lang- sam verbrannt war.
Allmählich erlangten sie Kontrolle über das Feuer, und über ihr ver- nahm sie menschliche Stimmen. Wasser umspülte sie.
Sie hörte ein Geräusch, ein sehr spezielles Geräusch, ganz anders als das des Wassers oder das von Martins zerplatzenden Knochen. Was sie hörte, waren Atemzüge – snick-snick, snick-snick –, schnelle, flache Atemzüge.
Eine Ratte kam durch den Schacht, in dem sie lag, zweifellos ange- lockt vom Geruch verbrannten, blutenden Fleisches. Aber vielleicht be- vorzugte das Tier ja gekochte Nahrung. Immerhin war es eine franzö- sische Ratte.
Das Tier bot eine Chance – zugegeben, keine sonderlich viel ver- sprechende, aber sein Auftauchen erhöhte ihre Überlebenschancen von null auf ... nun, auf etwas über null.
Hier, kleiner Nager, komm her. »Je mehr sie, genetisch gesehen, dem Menschen ähneln, desto besser für dich. Das Blut von Ratten, Af- fen und Kühen tut deinem Organismus gut.« Dies hatte ihr Meister Tu- tomon beigebracht, der Lehrmeister ihrer Kindheit, der sie in Geome- trie, in Sprachen und in der Kunst des Überlebens unterrichtet hatte. Die Ratte zögerte. Sie konnte das Tier nicht sehen, aber seine Atem- züge und das Trippeln seiner Pfoten waren unverkennbar. Es befand sich links von ihr, in der Nähe ihres Fußes. Um es zum Näherkommen zu bewegen, schnippte sie mit den Fingern.
Sie öffnete die Augen und bereitete sich, so gut es ging, darauf vor, blitzschnell zuzupacken. Es war völlig dunkel in dem Schacht, und das war gut so. Trotzdem sah sie die Ziegelsteine vor sich, so nahe, dass sie vor ihren Augen verschwammen. Plötzlich entfuhr ihr ein unfreiwilli- ges Stöhnen. Die Ratte huschte davon.
Sie hob den Kopf, bis er die Schachtdecke berührte, und blickte an ihrem Arm entlang. Die Ratte kam zurück. Sie konnte gerade so deren neugieriges kleines Gesicht erkennen, während ihr Atem an Miriams Fingerspitzen hauchte.
Sie öffnete die Hand, damit die Ratte in das Zentrum der Falle lief. Aber sie kam nicht näher.
Das seichte Wasser, das sie umspült hatte, wurde zu einem gleich- mäßig fließenden Strom. Wenn der Schacht verstopfte, würden die Menschen es bemerken. Sie würden Leute herunterschicken, um ihn freizumachen. Sie würden sie herauszerren, selbst wenn es sie in Stücke riss. Sie konnte keine Gnade erwarten, so viel stand inzwi- schen fest.
Nun kam die Ratte dicht an ihre Hand heran. Miriams empfindsame Nerven registrierten, wie das Tier an ihren Fingerspitzen schnüffelte. Endlich hörte das Tier auf zu schnüffeln und wollte in das ruhig dalie- gende Fleisch beißen, das seine Neugier geweckt hatte. Augenblick- lich war es in Miriams Hand gefangen. Es wand sich und stieß seine Rattenschreie aus – ree-ree-ree. Sie zog den Arm heran, zog das Tier an ihren Mund. Dabei musste sie es an ihrer nackten Brust vorbei- schieben, und während sie das tat, spürte sie, wie seine nadelartigen Zähne ihre blasse Haut aufschlitzten.
Dann war die Kreatur an ihrem Mund. Sie biss den kreischenden Kopf ab, saugte den Körper aus und zerknüllte die Überreste wie ein trockenes Blatt.
Das Blut der Ratte schmeckte überraschend gut. Sie spürte, wie es ihren Körper durchströmte. Es würde
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