Whitley Strieber
lebenswichtigen Blutfluss zu unterbre- chen.
Er hörte jemanden von hinten herankommen. Dann war Becky neben ihm, packte den Arm der Kreatur und versuchte sie zu Boden zu sto- ßen.
Der Hals des Vampirs fühlte sich an wie Stahl. Er war nicht imstande, die Kreatur zu erdrosseln, obwohl seine Hände sehr stark waren. Er versuchte es trotzdem, rutschte näher heran und sah schemenhafte Gesichtszüge, einen glühenden Mond in der Dunkelheit; er roch den Schweiß einer Frau – und ihr Parfüm. Tatsächlich, dieser Vampir trug Parfüm. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?
»Macht Licht! Schaltet eine Taschenlampe ein!«
Im Bruchteil einer Sekunde war der Vampir verschwunden. Des Ro- ches und Bocage eilten heran. Als Pauls Blick über den leeren Höhlen- boden wanderte, brandete eine Welle der Wut und Enttäuschung in ihm auf. Er hatte das verdammte Buch verloren! Dies bedeutete wei- tere Jahre mühseliger Arbeit und unzählige neue Opfer.
Dann berührte Beckys kühle Hand die seine. Im Schein ihrer Ta- schenlampe sah er den triumphierenden Blick in ihren Augen. Sie gab ihm das Buch.
»Oh, meine Becky«, sagte er, »meine liebe, liebe Becky.«
Sie beugte sich zu ihm hinab, die Lippen halb geöffnet, ihr Blick fest auf ihm ruhend.
Dafür war keine Zeit, nicht hier und nicht jetzt. »Wir können den Vampir noch schnappen«, sagte er und sprang auf.
»Er ist über alle Berge«, sagte Bocage.
Das konnte Paul nicht akzeptieren. Er drehte sich um und rannte ei- nige Schritte in die tödliche Finsternis.
»Paul! Paul, nicht!«
Er rannte weiter.
10
Die Reisende
Während er durch einen niedrigen, engen Tunnel rannte, ließ er immer wieder seine Taschenlampe aufblitzen, um sicherzugehen, dass er keine Abzweigung verpasste und nicht versehentlich gegen eine Wand lief. Er dachte nicht an den Umstand, dass er ganz alleine in einen Höhlenabschnitt eindrang, in dem es von Vampiren wimmelte. Dieses weibliche Exemplar – einer solchen Kreatur war er noch nie begegnet. Sie war sauber gewesen und hatte Parfüm getragen. Sie hatte sich zart und geschmeidig angefühlt, trotz ihrer immensen Kraft. Ihr Gesicht hatte er nicht erkennen können, aber er wusste, dass es schön war, vermutlich atemberaubend schön. Ihn umfing noch immer ihr betören- der, fraulicher Duft. Er hatte sein Blut in Wallung gebracht und ihm gleichzeitig eisige Angstschauer über den Rücken gejagt. Er wollte ba- den, den Duft von der Haut waschen ... und er wollte niemals wieder in eine Badewanne steigen.
War es die Reisende gewesen, war sie doch noch am Leben? Er wusste, dass es am wichtigsten war, das Buch an sich gebracht zu haben, aber er musste diesen Vampir trotzdem töten. Er hatte noch nie eine solche Mordlust verspürt wie im Augenblick, in all den Jahren nicht, in denen er diesem Handwerk nachging. Dieses Ding konnte auf den Straßen wandeln, ohne das geringste Aufsehen zu erregen. Der Gedanke, dass Vampire sich in der Welt der Menschen zurechtfinden konnten, war entsetzlich.
Am Ende des Tunnels gelangte er an eine T-Kreuzung, von der es nach rechts empor führte und nach links weiter in die Tiefe.
Er blieb stehen, richtete den Lichtstrahl seiner Taschenlampe erst in die eine, dann in die andere Richtung. Aus der Ferne hörte er Becky rufen. »Paul! Paul!«
Er bemerkte den zärtlichen Unterton in ihrer Stimme. Aber sie war eine professionelle Mörderin, verdammt noch mal. Welcher Mann konnte sich mit einer solchen Frau einlassen?
» Paaaaul!«
Ihre Sorge um ihn war herzzerreißend. Aber er wagte es nicht, ihr zu antworten. Sie würden eben versuchen müssen, ihm zu folgen. Zu warten, bis sie zu ihm aufschlossen, würde ihn mindestens zwei Minu-
ten kosten, und dies konnte er sich nicht leisten.
Er lauschte, schloss die Augen, legte die gewölbten Hände hinter die Ohren. Im aufwärts führenden Tunnel herrschte tiefe Stille. Nicht aber in dem, der nach unten führte – von dort vernahm er Geräusche: leises Stimmengemurmel, Kleiderrascheln und immer wieder tief tönende Vampir-Rufe.
Er zögerte nur einen kurzen Augenblick, um sich zu vergewissern, dass das Magazin in seiner Waffe voll war und er zusätzlich noch ei- nige in dem Rucksack hatte, den Raynard ihm gegeben hatte. Es wa- ren noch drei Magazine drin.
Es war eine nette Waffe, und ihm gefiel, wie sie alles in Stücke schoss. Den beruhigenden Griff in der Hand, lief er in den steil in die Tiefe führenden Tunnel hinein. Wenig später fiel der Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf
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