Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Kuss des Vampirs
Vom Netzwerk:
verschiedene lateinische Inschriften an den Wän- den. Dieser Tunnel musste in der Tat sehr, sehr alt sein. Die Arènes de Lutèce, in der die alten Römer ihre Bärenkämpfe veranstaltet hat- ten, musste sich ganz in der Nähe über seinem gegenwärtigen Stand- ort befinden. Möglicherweise hatten sie hier die für den Bau der Arena nötigen Steine abgetragen. Aber er glaubte es nicht. Denn die Wände sahen zu unbeschädigt aus. So alt sie auch schienen, sie waren voll- kommen gerade und ebenmäßig.
    Er befand sich in einem Tunnel, der vor unsagbar langer Zeit von Vampiren erbaut worden sein musste. Die Menschheit hatte damals wahrscheinlich noch in – nun, wahrscheinlich hatte sie noch in Höhlen gehaust.
    Was ließ sich daraus schließen?
    Wenn Vampire so fortschrittlich gewesen waren, um etwas Derarti- ges zu erschaffen, mussten sie in grauer Vorzeit die Welt beherrscht haben. Die Schlussfolgerungen für den heute lebenden Menschen wa- ren beängstigend. Alles war möglich – vielleicht hatten sie den Men- schen sogar gezüchtet, so wie er heute Rinder züchtete.
    Furcht beschlich ihn, und er versuchte, sie zu unterdrücken. Aber was, wenn er gar nicht gewinnen konnte? Was, wenn sie über Mittel und Kräfte verfügten, die er sich nicht einmal im Traum vorzustellen vermochte?
    Er versuchte es mit einem philosophischen Ansatz. Wenn er hier un- ten starb, dann starb er eben hier unten. Wenigstens würde er einige von ihnen mit in den Tod reißen.
    Und dann – atmete da jemand?

Er blieb stehen, lauschte. Nein, da war nichts, nur ein leiser Wind- hauch aus irgendeiner Höhle oder weit entfernter Straßenlärm. Er ging weiter.
    Plötzlich tauchte vor ihm eine der Kreaturen auf, ein kreischendes, wild umherspringendes Etwas in der Dunkelheit. Er schoss, einmal, zweimal, dreimal, bis die Kreatur mit einem deutlich vernehmbaren Klatschen an die Tunnelwand geschleudert wurde.
    Er schaltete seine Taschenlampe ein, in der Erwartung, zerfetzte Fleischklumpen und eine riesige Blutlache zu erblicken. Aber da war kaum Blut. Dann sah er ein Stück grauen Pelz auf dem Boden, und ihm wurde klar, dass das schummrige Licht ihm einen Streich gespielt hatte. Er hatte auf den drohend aufragenden Schatten einer Ratte ge- schossen.
    »Verdammt!«
    Er ging weiter, gelangte immer tiefer, näherte sich dem Murmeln und Flüstern der Finsternis.
    Dann vernahm er ein völlig unerwartetes Geräusch. Eine Stimme. Eine Kinderstimme. »Sir?« Sein Herz raste – nicht nur, weil die Stimme erklungen war, sondern weil sie von hinten kam.
    Sollte er es wagen, sich umzudrehen? Sollte er?
    »Sir?«
    Er konnte nicht sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Die Stimme klang, als gehörte sie zu einem etwa zehnjährigen Kind. Sein Finger legte sich um den Abzug. Ihm war speiübel; er glaubte nicht, dies tun zu können. Aber er wirbelte herum, ließ sich dabei zu Boden fallen und feuerte.
    Dort war niemand.
    Sie täuschten ihn. Auch die Ratte war nur eine Täuschung gewesen, wie ihm nun klar wurde. Eine Ratte warf keinen so großen Schatten. Wie sie dies zuwege brachten, wusste er nicht, doch es war ihnen ge- lungen. Sie täuschten ihn, damit er seine Munition vergeudete. Wahr- scheinlich zählten sie seine Schüsse.
    Er starrte in die Dunkelheit, konnte aber nichts erkennen. Er lauschte, hörte aber nichts. Nur seine Atemzüge durchbrachen die Stille. Er war ein belastbarer Mensch, dies hatte er im Laufe der Jahre über sich gelernt. Aber ebenso hatte er gelernt, dass selbst er an seine Grenzen stieß. Er hatte mitangesehen, wie die Roten Khmer einen Mann lebendig begraben hatten, und mitangehört, wie der Mann in sei- nem Erdloch verrückt geworden war. Paul hatte bittere Tränen der

Angst vergossen, weil er geglaubt hatte, als Nächster an die Reihe zu kommen.
    Die Vampire kannten den menschlichen Verstand. Und dessen Gren- zen. Deswegen war es so verdammt schwer, nicht die Taschenlampe anzuknipsen oder zu schießen, als er plötzlich ein langsam näher kommendes Knarren vernahm. Es machte ihn fast wahnsinnig. Doch er riss sich zusammen, denn er wusste, dass es ein vergeudeter Schuss war, wenn er trotzdem feuerte.
    Er trat zur Seite, so leise, wie es für einen groß gewachsenen Mann möglich war, und drückte sich mit dem Rücken an die Wand. Er schloss die Augen, denn dies würde sein Hörvermögen um einige Grade steigern. Obwohl praktisch vollkommene Finsternis herrschte, würde sein Gehirn sich auf diese Weise mehr auf Geräusche konzen-

Weitere Kostenlose Bücher