Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Kuss des Vampirs
Vom Netzwerk:
ge-

meißeltes Gesicht sah. Ihr Körper hatte auf diesen Menschen reagiert, als wäre er ein Hüter. Dies war nicht die Anziehungskraft, die ein at- traktiver Mensch gewöhnlich auf sie ausübte, sondern ein mächtiges, bebendes, alles in den Hintergrund drängendes Begehren. Sie wollte ihn nicht unter sich haben, sondern auf sich; sie verzehrte sich, nein, sie gierte nach ihm, wollte, dass er sie in Besitz nahm, wollte, dass er sie mit seiner zuckenden, erschreckenden Härte ausfüllte. Ihr Körper winselte, bettelte nach ihm, als wäre er der stärkste, prächtigste männ- liche Hüter, den die Welt je gesehen hatte.
    Sie eilte davon, gleichermaßen entsetzt über ihre Gefühle wie über die Vernichtungskraft der Waffen, die gegen sie erhoben worden wa- ren.
    Sie rannte ans Ende des Tunnels, nahm eine Abzweigung, dann noch eine und drückte sich mit dem Rücken an die Wand. Sie lauschte – das allgegenwärtige Rauschen herunterlaufenden Wassers, das Trippeln der Ratten, die tiefen Stimmen anderer Hüter, die einander in einer Mischung aus Französisch und Prime Fragen zuriefen wie: »Was war das? Gibt es Grund zur Sorge?«
    Es waren viele Hüter hier unten. Sie wollten tatsächlich ihre Zusam- menkunft abhalten. Nachdem sie diesen Mann gesehen hatte, wusste Miriam, dass es keine Zusammenkunft geben würde. Er würde wie der rote Schatten des Todes durch dieses Labyrinth ziehen, wie die Faust eines zornigen Gottes. Keiner würde ihn überleben, nicht mit seinen explodierenden Geschossen und seinem Gefolge und seiner unheimli- chen Reaktionsfähigkeit.
    Irgendwo hinter ihr explodierte die nächste Feuersalve, gefolgt vom dumpfen Aufschlag eines weiteren zerfetzten Hüters.
    Sie würden diese Schlacht verlieren. Deshalb musste sie das Nötige tun, um die weltweit verbliebenen Hüter zu schützen. Sie musste sich ins Herz des unterirdischen Labyrinths begeben, in die Kaverne, und das Buch der Namen an sich bringen. Um dort hinzugelangen, musste sie sicherstellen, dass jeder ihrer Schritte sie abwärts führte. Sie nahm hier eine Abzweigung, dort eine und gelangte in immer größere Tiefen. Hier unten lief das Wasser in Bächen an den Wänden herunter, und sie befürchtete schon, dass die Kaverne womöglich überflutet war. Alle paar Minuten erklang hinter ihr ein schreckliches Donnern, ge- folgt von einer Reihe schwächerer Explosionen. Die Menschen – an- geführt von diesem unheimlichen, wunderschönen Monster – brachten ganz methodisch einen Hüter nach dem anderen um. Ihre Artgenos-

sen, die keinen allgemeinen Alarm ausriefen und keine rechte Möglich- keit hatten, auf eine solche Attacke zu reagieren, antworteten nur in kleinen Gruppen mit sporadischen Gegenangriffen, wenngleich mit wachsender Wut und Heftigkeit.
    Sie eilte mit schnellen Schritten durch die Dunkelheit, den Kopf ge- senkt, als sie plötzlich eine Veränderung ihrer Umgebung wahrnahm. Sie befand sich in einem weit größeren Raum – und nicht nur das, sie konnte sogar wieder etwas erkennen.
    Dies war kein von Menschenhand gebauter Tunnel, sondern etwas viel Älteres. Die exakt ausgerichteten Wände und die anmutige De- ckenwölbung wiesen darauf hin, dass hier sorgfältiger arbeitende Hände als die der Menschen am Werk gewesen waren. Stalagmiten sprossen aus dem Boden. Es sah aus wie ein Wald auf einem anderen Planeten.
    »Ich bin Miriam, Tochter von Lamia, und komme, um Eurer Zusam- menkunft beizuwohnen.«
    Zunächst herrschte Stille. Dann flackerte das Licht, und mit dem lei- sestmöglichen Geräusch trat ein Schatten hervor. »Ich bin Julia, Toch- ter von Helene, die einstmals Nef-ta-tu hieß.«
    Sie hatte Julia seit dem goldenen Zeitalter nicht mehr gesehen, seit ihre Rasse über Ägypten geherrscht hatte, seit sie unter den menschli- chen Herden wie Prinzen gewandelt waren.
    Damals war Julia niedlich gewesen wie ein junges Reh, zart wie ein knospender Apfel an einem Ast. Was nun auf Miriam zuschritt, war eine dunkle Kreatur, die so dreckverkrustet war, dass allein ihre Augen lebendig schienen.
    Julia trug das Buch der Namen bei sich, beiläufig unter den Arm ge- klemmt, als wäre es ein beliebiger Roman. »Eine Menschenschar nä- hert sich unserer Kaverne«, sagte sie mit milde klingender Stimme. »Sie bringen uns um.«
    Sie warf Miriam einen ungläubigen Blick zu. »Wie sollte das gelin- gen?«
    »Mit Pistolen.«
    »Wir sind schneller als ihre Hände. Wir treten aus dem Weg, bevor sie den Abzug drücken. Ich habe es selbst hin und

Weitere Kostenlose Bücher