Whitley Strieber
Mal riss es ihr den Kopf vom Hals. Auf ihrem Gesicht erkannte Miriam den Ausdruck milder Verblüffung, das war alles.
»Da ist noch einer«, sagte eine Stimme. »Dort hinten, der Schatten neben der Tropfsteinsäule. Das ist ein Vampir.«
Miriam musste sofort verschwinden. Aber das Buch – es lag neben Julias zerfetzter Leiche. Es war nur einige Ellen entfernt, lag aber mit- ten in der Schusslinie.
Es hatte einen dunkelbraunen Schutzdeckel, der aus uralter, gegerb- ter Menschenhaut bestand. Darauf befand sich das altertümliche Hü- ter-Symbol für das Gleichgewicht der Natur und die Ausgewogenheit der Herrschaft, den Menschen bekannt als ägyptisches Henkelkreuz. Auch die Vampirjäger blickten darauf.
Sie musste irgendwie an das Buch herankommen. Aber als Erstes musste sie das verdammte Licht löschen. Die stromführenden Kupfer- drähte hingen etwa einen Meter über ihrem Kopf. Sie wusste, dass diese Batterie-Vorrichtungen sich sehr von den Batterien der Men- schen unterschieden, dass sie ihre Energie aus der Erde selbst ge- wannen und einen extrem hohen Wirkungsgrad hatten.
Um das Licht zu löschen, musste sie hochspringen und einen der Drähte abreißen. Die Elektrizität würde ihr einen Schlag versetzen. Und wenn sie den Draht nicht schnell genug losließ, würde sie inner- lich verglühen – es würde Wochen dauern, bis die Verletzung verheilt war. Andererseits würden die Menschen sie jeden Augenblick stellen. Sie stand gut geschützt hinter einem Stalagmiten, aber ihre Häscher eröffneten nichtsdestotrotz alle gleichzeitig das Feuer. Der Widerhall ihrer Schüsse schallte wie Glockengeläut durch die riesige Kaverne. Keines der Geschosse traf sie.
Der Anführer sagte mit eisiger Stimme: »Verteilt euch.«
Sie kamen näher, angeführt von ihrem Monster. Seine Miene wirkte so entschlossen, und der Hass war ihm so deutlich ins Gesicht ge- schrieben, dass sie zu glauben gewillt war, seine Empfindungen moch- ten nahezu das gesamte Spektrum menschlicher Gefühle abdecken. Dieser Mensch verachtete die Hüter so sehr und fand sie so abscheu- lich, dass er sie fast schon wieder liebte. Das würde sie sich merken. »Wir müssen uns diagonal zu der Wand dort stellen«, sagte er, »der Vampir presst sich an die Rückseite der Säule.«
Er sprach in einem ganz und gar nüchternen Tonfall. Nun, auch sie war ein Profi. Sie streckte die Hand nach einem der Kupferdrähte aus. Ihre Finger hielten inne, zögerten. Doch dies war kein ritueller Akt der Besitzbenennung. Sie sprang hoch und schloss die Finger um den Draht.
Ein brummendes Geräusch ertönte, gefolgt von einem scharfen Zi- schen, dann erloschen die Lichter. »Scheiße«, sagte Bocage. Paul hockte sich mit Händen und Knien auf den Boden. »Das Buch«, flüsterte er.
»Vergiss das blöde Buch, sorge lieber für Licht«, schimpfte Becky. »Setzt die Brillen auf«, sagte Des Roches.
Dafür war keine Zeit, und Paul wusste dies. »Gebt mir Feuerschutz«, sagte er und kroch auf das Buch zu.
»Wie denn?«, fragte Bocage.
Paul kroch ein, zwei Meter, dann noch einen. Er hörte, wie sie ihre Brillen aufsetzten. Die Infrarot-Strahler durften sie nicht einschalten. Vampire konnten in diesem Spektralbereich sehen.
Plötzlich fühlte er die glatte Oberfläche des Buches und packte es. Aber dann merkte er, dass ein zweites Händepaar ebenfalls danach griff.
Sie war dort, direkt vor ihm, doch er konnte nicht das Geringste er- kennen. Aber er konnte sie riechen – es war nicht der typische Vampir- gestank, sondern ein Duft, dem er noch nie begegnet war, gehaltvoll und vielschichtig und höllisch sexy.
Als sie fauchte – was Vampire immer taten –, fand er, dass es der lieblichste und zugleich tödlichste Laut war, den er je vernommen hatte. Er wusste, dass sie stärker war als er, aber er hatte nicht vor, dass Buch loszulassen. »Ich weiß, dass du mich verstehen kannst«, sagte er.
Die Antwort bestand nur aus Atemzügen, leise und flatternd wie die Flügelschläge eines Schmetterlingsschwarms. Sie hat auch Angst, dachte er, ein Vampir, der imstande ist, sich zu fürchten .
Sie riss ihm das Buch aus den Händen. Sofort stürzte er sich auf sie, stieß gegen ihren Körper und hörte das Buch zu Boden fallen. Sie fauchte erneut, und dieses Mal klang es wie eine Mischung aus Ver- blüffung und glühendem Zorn; er nahm an, dass er jeden Augenblick sterben würde.
Er versuchte seine Finger um ihren Hals zu bekommen, versuchte
sie zu würgen und damit den
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