Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Kuss des Vampirs
Vom Netzwerk:
trieren und die visuelle Wahrnehmung für den Augenblick außer Acht lassen.
    Er stopfte das Buch in seine Hose und legte seine freie Hand ans Ohr. Er lauschte in eine Richtung. Dort, dort drüben knarrte es. Aber es war kein lebendiges Geräusch, und es kam nicht näher. Aus der anderen Richtung jedoch drang ein anderer, wesentlich vielschichtige- rer und schwerer zu identifizierender Laut an sein Ohr.
    Er glaubte, dass es sich um das Geräusch eines lebenden Wesens handelte. Seiner Meinung nach war es der Laut behutsam eingesoge- ner Atemzüge. Er musste die Hand vom Ohr nehmen, mit seiner Ta- schenlampe in die Richtung strahlen und sofort schießen, falls tatsäch- lich jemand dort war.
    Aber was, wenn es dieses Kind war? Sie wussten, dass es ihm schwer fiel, auf ein Kind zu schießen. Er würde einen Sekundenbruch- teil zögern, und dies würden sie auszunutzen wissen.
    Es war ein Duell, und sie hatten es so arrangiert, dass er es in dem Moment verlieren würde, in dem er seine Position preisgab. Die ein- zige Möglichkeit, es zu gewinnen, wäre, in die Dunkelheit zu schießen und womöglich ein Kind zu töten ... ein Vampir-Kind zwar, aber den- noch ein Kind.
    Die Atemzüge waren nun ganz nahe. Er musste etwas tun, und zwar sofort. Er griff nicht nach seiner Taschenlampe. Stattdessen griff er auf's Geratewohl in die Dunkelheit und berührte einen Hemdsärmel. Der Ärmel wurde fortgerissen, aber Paul war schnell, war immer schnell gewesen. Er spürte die eiskalte Haut einer großen, kräftigen Hand. Er packte das Handgelenk, schloss die Finger und griff so fest

zu, wie er konnte.
    Der Vampir lachte, leise und völlig entspannt. Was für ein Narr, dachte Paul. Er schoss mitten in das Lachen hinein. Im Mündungs- feuer erkannte er ein dunkles, männliches Gesicht mit einer langen, spitzen Nase und leuchtenden Augen.
    Ein Schrei ertönte, doch plötzlich wurde es still.
    Paul war für einige Augenblicke taub, wie immer nach einem derart ohrenbetäubenden Schuss. Als er wieder hören konnte, vernahm er das entsetzliche Kreischen einer schmerzgepeinigten Frau.
    Nun knipste er seine Taschenlampe an. Er erblickte eine Vampirfrau, die Zöpfe und ein langes, dunkelblaues Seidenkleid mit weißem Kra- gen trug, und deren aufgerissener Mund ein hässliches O formte. Sie hatten schreckliche, nach dem Blut in ihren Bäuchen riechende Mün- der, Münder, die nur zum Saugen taugten. Sie sahen ganz gewöhnlich aus – ein bisschen schmallippig vielleicht –, bis sie ihre feuchten, stin- kenden Mäuler aufrissen. Wenn man einen Vampir küsste, dachte Paul, würde er einem glatt die Eingeweide aussaugen.
    Sie empfanden einen deutlich größeren Verlustschmerz als Men- schen; er hatte es in Asien oft genug erlebt. Die Vampirfrau kam wie eine Furie auf ihn zugestürmt, die Arme ausgestreckt, ihre Finger lange, todbringende Klauen. Er wusste, dass sie ihn in Stücke reißen wollte, dass sie fühlen wollte, wie sein Rückgrat brach.
    Er drückte ab. Im Mündungsfeuer sah er, wie sich ihr Kleid aufblähte, wie vom Windstoß eines im Boden eingelassenen Ventilators. Ihr Ge- sicht fiel in sich zusammen, ihr Schrei vereinte sich mit dem Aufbrüllen der Waffe und erstarb.
    Ihr Körper schlug mit einem dumpfen Knall an die Wand hinter ihr, dann rutschte sie zu Boden, in ihre eigene, dickflüssige Blutlache. Sie lagen Seite an Seite, und Paul war verblüfft von dem Anblick, der sich ihm bot. Der Mann trug schwarze Jeans, einen schwarzen Pullover und eine so edel aussehende Lederjacke, dass Paul sie kaum zu be- rühren wagte. Die Frau neben ihm war ebenso manierlich gekleidet. Diese europäischen Vampire wirkten ganz anders als die asiatischen Dinger, die sich nur im schummrigen Schattenlicht bewegten. Diese Vampire hier konnten sich an jeden gewünschten Ort begeben, wann immer es ihnen beliebte. Sie wirkten richtig modern. Gab es irgendet- was, das sie davon abhalten würde, ihre Artgenossen in den Staaten anzurufen?
    Nein, nichts hielt sie davon ab. Paul musste sich eingestehen, dass

er Glück gehabt hatte in Asien. Auf den Überraschungseffekt konnte er sich nicht länger verlassen. Das Einzige, was noch für ihn sprach, war seine Schnelligkeit.
    Jede einzelne Kreatur in diesem unterirdischen Labyrinth musste ge- tötet werden, und zwar augenblicklich, noch heute. Sonst würden sie zum Telefon greifen oder vielleicht sogar E-mails verschicken und die Vampire in Amerika und Afrika – oder wo immer sie lebten – vor der drohenden Gefahr

Weitere Kostenlose Bücher