Whitley Strieber
zum West-Parkplatz, wo sein Wagen stand. Als er in seinen hübschen kleinen Saab, der zwei Jahre in der Garage auf ihn gewartet hatte, einstieg, fragte er sich, ob er schnell genug sein würde, um durch das Tor gelassen zu werden, oder ob Justin schon angerufen hatte und ihn die Männer festhalten würden.
Er fuhr vor dem Wachhaus vor, zeigte seinen Ausweis und wartete. Der Wachmann sah ihn kurz an, machte eine Notiz und öffnete die Schranke. Paul fuhr hinaus und raste sofort Richtung Freeway. Es war ein sonniger Sommernachmittag, und sobald er Reston hinter sich ge- lassen hatte, sah die Welt wieder unschuldig, ja richtig zauberhaft aus. Er liebte die Menschen in ihren Autos und brachte für ihre Hoffnungen und Träume ein Einfühlungsvermögen auf, das nur Leute besaßen, die von Berufs wegen getötet hatten. Einen Menschen zu töten, hatte et- was an sich, das einem das Leben auf diesem Planeten unendlich kostbar erscheinen ließ. Selbst wenn der Tod eines Menschen unbe-
dingt nötig gewesen war, blieb die Tatsache bestehen, dass die Toten einen zeitlebens begleiteten. Allerdings nicht die getöteten Vampire. Nur die Menschen.
Was wenn die Menschen erfuhren, dass sie demnächst wahrschein- lich gejagt und umgebracht werden würden, ohne dass die Rechtspre- chung dies verbot? Der bloße Gedanke war schon absurd.
An diesem verräterisch friedlichen Nachmittag wurde ihm mit aller Schärfe bewusst, dass er mit höchster Professionalität und Geschwin- digkeit agieren musste, um nicht selbst zur Beute zu werden. In die- sem Augenblick fand irgendwo in Langley – vermutlich in Justins Büro – eine dringende Sitzung statt, bei der es um das Thema Paul Ward ging. Er war ein so genannter ‘Läufer’ geworden, ein Agent, der in dem Augenblick geflohen war, als man seine Taten in Zweifel gezogen hatte. Für die CIA galt dieses Verhalten als eindeutiger Beweis für seine Schuld, und sie war äußerst erfahren darin, Leute wie ihn aufzu- spüren.
Ihm war klar, was er tun musste: Er musste so viele Vampire wie möglich töten, bevor die Firma ihn schnappte.
Er wechselte von der 495 auf die 95, denn er wollte nach Baltimore, dort seinen Wagen abstellen und mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zum Amtrak-Bahnhof fahren.
Da er über die Vampire in Amerika kaum Informationen besaß, hielt er es für das Beste, zunächst nach New York zu gehen. Dort war diese Reporterin, Ellen Wunderling, bei Recherchen in der Gothic-Szene spurlos verschwunden. Paul hielt es für möglich, dass sie an einen echten Vampir geraten war, zu viel entdeckt hatte und umgebracht worden war.
Also würde er wieder an den Anfang zurückkehren und nach ihr su- chen. Sie war in New York verschwunden, deswegen war dies sein erster Anlaufpunkt.
Er war jemand, der stets viel Bargeld bei sich trug, und dies würde ihm nun helfen, sich einen einigermaßen beruhigenden Vorsprung zu seinen Verfolgern zu verschaffen.
Es war mehr als tragisch, für das französische Buch der Namen ein Leben geopfert zu haben und das Buch nun nicht benutzen zu können. Er verstand kein Wort darin und konnte natürlich nicht bei der NSA vorbeischauen und sie bitten, es für ihn zu übersetzen.
Als er die Ausfahrt zur Route 32 erreichte, beschloss er, es für seine Verfolger ein wenig interessanter zu machen. Er raste auf der 32 bis
Columbia, wo es verschiedene Buslinien und Taxifirmen gab. Er fuhr zum Columbia-Mall und stellte seinen Wagen auf dem gebüh- renpflichtigen Parkplatz ab, denn dort würde man ihn nicht sofort fin- den. Er schaltete sein Mobiltelefon ein und spazierte in den mehrstö- ckigen Konsumtempel. Alles sah so nett aus, so verdammt amerika- nisch. Er ging zu Sears, schlenderte durch die Abteilungen, sah sich Waschmaschinen und die Herrenkonfektion an. Er kaufte zwei Ober- hemden, eine Hose, ein blaues Sakko und schwarze Straßenschuhe. Als er aus der Umkleidekabine kam, sah er wie derselbe Mann in an- derer Kleidung aus. Er wusste, dass es unmöglich war, einen Paul Ward zu verkleiden, aber selbst die kleinste Veränderung half. Er ließ sein Mobiltelefon in die Einkaufstüte einer Frau gleiten. Sie würden das Signal auffangen und die Frau in etwa einer Stunde lokali- siert haben. Es würde in ihrem zuckersüßen Durchschnittsleben für ei- nige Aufregung sorgen.
Er ging nach draußen und winkte ein Taxi heran, das ihn zum Cam- pus des St. John's College in Annapolis brachte. Vor tausend Jahren war er einige Semester lang ein St. Johnnie gewesen.
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