Whitley Strieber
verschwinden, aber sie würde weiterhin ihre Pflicht erledigen. Er schrieb die drei Worte. Dann fügte er an. »Wende dich an B.« Ange- sichts seiner jüngsten Verluste hatte Bocage mit Sicherheit einen Job für sie. Er würde sie mit Kusshand nehmen.
Er seufzte. Es war anzunehmen, dass er Becky nie wieder sehen würde, dass er nie erfahren würde, in welchen Bahnen ihr Leben ver- laufen war. Nun, was soll's, das war eben das Wesen dieses Spiels. Man arbeitete in einem luftleeren Raum. Manchmal hatte man Partner, manchmal arbeitete man allein. Aber er hätte sie lieben können. Ja, diese Frau hätte er lieben können.
Er verschickte die E-mail unter dem Namen der Person, die an die- sem Computer arbeitete, und schaltete das Gerät sofort danach aus. Es war sinnlos, die Nachricht elektronisch zu verschlüsseln. Ihre Ver- schlüsselungsprogramme liefen alle über die CIA. Ihr selbst erdachter Code musste reichen, und er konnte nur hoffen, kein Wort verwendet zu haben, das einen automatischen Echelon-Alarm auslöste. Er ging hinaus und eilte zum Sportfeld und der dahinter liegenden Bushaltestelle. Dort drüben stand der Baum, unter dem er Connie Bell geküsst hatte. Selbst nach all den Jahren erinnerte er sich noch genau daran, wie lieblich ihre Lippen geschmeckt hatten. Connie war die be- zauberndste Frau, die er Zeit seines Lebens kennen gelernt hatte, bis auf den heutigen Tag.
Ihm wurde undeutlich bewusst, dass er weinte. Zumindest waren seine Augen feucht. Was für ein verdammter Idiot er sein konnte. Zum Glück war er allein. Er weinte wegen seiner jäh beendeten Karriere und wegen seines besudelten Rufes, aber in erster Linie weinte er um Connie Bell und seine verlorene Jugend ... und um Becky Driver, die er nicht ein einziges Mal geküsst hatte.
Er überquerte das Sportfeld und erreichte die Bushaltestelle. Er
würde nach Baltimore fahren und von dort weiter zur Penn Station. Seine Verfolger würden darauf warten, dass er sein Mobiltelefon, seine Kreditkarte oder einen Geldautomaten benutzte. Niemand würde auf den Straßen nach ihm Ausschau halten, niemand würde versu- chen, sich in ihn hineinzuversetzen und seinen Gedankengängen zu folgen, um ihn auf die altmodische Tour zu schnappen.
Er hatte nicht vor, die Vampir-Jagd aufzugeben, bloß weil er keine Unterstützung mehr hatte. Zum Teufel mit der CIA; er würde die Sache alleine durchziehen. Womöglich würde er die Vereinigten Staaten von dieser Plage befreit haben, bevor seine Arbeitgeber ihn aufspürten, wer weiß? Justins Artenschutz-Gefasel! Alles nur dummes Geschwätz! Wenn er die verdammten Dinger ausrottete, bevor sie unter Schutz ge- stellt wurden – was wollten die Hosenscheißer im Weißen Haus dann tun – sich öffentlich dafür entschuldigen, dass sie etwas so Schreckli- ches hatten geschehen lassen?
Sie hatten jegliches Gespür für die Situation verloren. Wenn den Vampiren erlaubt wurde zu jagen – wenn ihnen alle möglichen Rechte eingeräumt wurden – o Gott, das wäre das Ende. Binnen eines Jahr- zehnts würden sie wieder die Welt beherrschen.
Der Bus kam. Er stieg ein, entrichtete den Fahrpreis und setzte sich. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Hättest lieber zuende studieren sollen, du Idiot«, murmelte er leise. Er hätte Philosophie-Pro- fessor werden können oder Sprachwissenschaftler. Er hätte ein ruhi- ges Leben führen können, hätte die Liebe kennen lernen und heiraten können. Aber wenn man eine Kindheit wie er gehabt hatte – nun, dann war man gezeichnet, wurde ein hartherziger Gefühlskrüppel.
Trotzdem, wie hatte er zu dem Menschen werden können, der er heute war? Was hatte ihn dazu getrieben, ein so guter Schütze zu werden, die Kunst des Tötens zu erlernen, ständig am Rand der Ge- sellschaft zu leben?
Natürlich kannte er die Antwort. Dieses Mysterium hatte er längst ge- löst. Als sein Vater spurlos verschwand, hatte sich seine Welt von Grund auf geändert. Sie wurde zu einem Ort, an dem alles geschehen konnte und an dem niemand sicher war. Er war aus einem sehr einfa- chen Grund derjenige geworden, der er heute war: Er lebte mit einer entsetzlichen inneren Angst, einer Angst, die einfach nicht vergehen wollte.
Was, wenn seine Kinder verschwanden? Oder seine Frau, oder er selbst? Seine Furcht war zu groß, um zu wahrer Liebe fähig zu sein.
Er hatte in seinem Leben mindestens fünfzig Menschen getötet, ei- nige davon mit bloßen Händen. Er hatte Menschen gefoltert, widerwil- lig zwar,
Weitere Kostenlose Bücher