Widersacher-Zyklus 01 - Das Kastell
öffnete die Tür einen Spaltbreit. In der einen Ec ke des Raums brannte eine Kerosinlampe, und ihr milchiger Schein tastete über die Wände und über die in den Stein eingelassenen Kreuze. Der Gefreite befand sich gerade in einer seiner ruhigen Phasen – er atmete rasselnd, schwitzte und wimmerte leise vor sich hin. Für gewöhnlich folgte diesem halblauten Jammern ein weithin hallendes Heulen. Wörmann wollte möglichst weit entfernt sein, wenn es begann. Es war gräßlich, eine so seltsam klingende menschliche Stimme zu hören …
Der Major hatte das Ende des Korridors erreicht und wollte gerade den Hof betreten, als eine andere Art von Schrei die Stille der Nacht zerriß. Es hörte sich an, als sei Grünstatt plötzlich aus seiner geistigen Starre erwacht und verbrenne bei lebendigem Leib. Sein Brüllen brachte nicht nur körperliche Qual zum Ausdruck, sondern auch schier unerträgliche psychische Pein. Und dann brach es übergangslos ab.
Einige Sekunden lang blieb Wörmann reglos stehen, als weigerten sich seine Muskeln, den Befehlen des Gehirns zu gehorchen.
Es kostete ihn große Mühe, sich umzudrehen, in den Flur zurückzulaufen und die Tür aufzureißen. Es war kalt, kälter als noch vor wenigen Minuten, und die Kerosinlampe in der Ecke brannte nicht mehr. Der Major holte ein Streichholz hervor, entzündete sie wieder und wandte sich dann Grünstatt zu.
Tot. Die Augen weit aufgerissen, der gebrochene Blick an die Decke gerichtet. Der Mund geöffnet, die Lippen zurückgezogen. Und der Hals … Eine klaffende Wunde zeigte sich dort – Blut auf dem Bettzeug und an der Wand.
Wörmann handelte aus einem Reflex heraus, zerrte die Luger aus dem Holster und hielt nach dem Mörder Ausschau. Doch niemand sonst befand sich im Zimmer. Er eilte zu dem schmalen Fenster, sah nach draußen und musterte die Mauern. Nirgends ein Seil. Kein Hinweis darauf, daß jemand geflohen war. Der Offizier wandte sich um und ließ seinen Blick noch einmal durch die Kammer wandern. Das gibt’s doch nicht! fuhr es ihm durch den Sinn. Niemand war durch den Korridor geschlichen oder aus dem Fenster geklettert. Doch die Wunde in Grünstatts Kehle konnte unmöglich von ganz allein entstanden sein.
Hastige Schritte näherten sich – die Wächter hatten den Schrei gehört und kamen, um nach dem Rechten zu sehen. Gut. Wörmann spürte, wie sich dumpfes Entsetzen in ihm regte. Er konnte es nicht mehr ertragen, in diesem Zimmer allein zu sein.
Donnerstag, 24. April
Am Morgen wurde Grünstatts Leiche ebenfalls in die Kammer unter dem Keller gebracht, und anschließend sorgte Wörmann dafür, daß seine Leute den ganzen Tag über vollauf beschäftigt waren. Er gab ihnen zu verstehen, daß sie vielleicht mit antideutschen Partisanengruppen rechnen mußten, die den Dinu-Paß als Einsatzort gewählt hatten, aber er selbst war von dieser Erklärung nicht so recht überzeugt. Seine Erinnerungen sprachen dagegen: Er hatte im Flur gestanden, als Grünstatt gestorben war. Für den Mörder hatte es nicht die geringste Möglichkeit gegeben, unbemerkt an ihm vorbeizugelangen. Es sei denn, der Unbekannte konnte fliegen oder durch massiven Granit gehen. Und das war selbstverständlich ausgeschlossen.
Er gab bekannt, daß die Wachen am kommenden Abend verdoppelt werden sollten, und außerdem beauftragte er weitere Männer, im Bereich der Mannschaftsquartiere zu patrouillieren und ihre schlafenden Kameraden zu schützen.
Am Nachmittag wandte sich der Major seiner Staffelei zu und begann zu malen. Er versuchte, Grünstatts schrecklichen, fratzenhaften Gesichtsausdruck zu vergessen und konzentrierte sich auf das Mischen der Farben. Dann strich er mit dem Pinsel über die Leinwand und plazierte das Fenster in der rechten Hälfte. Wörmann ließ eine weiße Stelle für die Darstellung des Dorfes im ersten Licht des Tages frei.
In jener Nacht schlief er endlich.
Gefreiter Rudi Schreck nahm seinen Wachdienst sehr ernst. Er behielt Werner im Auge, der auf der anderen Seite des Hofes patrouillierte. Am frühen Abend hatte er die Ansicht vertreten, es sei nicht nötig, gleich zwei Männer auf dem kleinen Platz zu postieren, aber als sich die Dunkelheit verdichtete, war er froh, daß jemand in der Nähe war.
Die Runden der beiden Soldaten führten sie dicht neben den Mauern entlang, immer an den gegenüberliegenden Seiten. Dadurch waren sie zwar getrennt, doch es entging ihnen nichts.
Rudi Schreck hatte keine Angst. Ein gewisses Unbehagen ja,
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