Widersacher-Zyklus 02 - Die Gruft
Ziel, dem jeder Atman zustrebt.«
»Und wenn du Rindfleisch isst, entfernt dich das von Moksha?« Es klang albern.
Kolabati schien wieder in seinen Gedanken zu lesen. »Das ist gar nicht so merkwürdig. Juden und Moslems haben ein ähnliches Tabu in Bezug auf Schweinefleisch. In unseren Augen beschmutzt Rindfleisch das Karma.«
»Beschmutzen.«
»Ja, richtig.«
»Machst du dir viele Gedanken über dein Karma?«
»Nicht so viele, wie ich sollte. Und ganz bestimmt nicht so viele wie Kusum.« Ein Schatten senkte sich über ihre Augen. »Er ist ganz besessen von seinem Karma … von seinem Karma und von Kali.«
Das gefiel Jack jetzt gar nicht. »Kali? Wurde die nicht von einer Bande von Attentätern angebetet?« Auch das war Wissen aus Gunga Din.
Kolabatis Gedankenverlorenheit wich Empörung. Sie krallte ihre Fingernägel in Jacks Handfläche und die Lust wich einem scharfen Schmerz. »Das war nicht Kali, sondern nur ein armseliger Avatar von ihr namens Bhavani, der von den Thugs angebetet wurde – Kriminellen aus einer niederen Kaste! Kali ist die oberste Göttin!«
»Upps! Entschuldige!«
Sie lächelte. »Wo wohnst du?«
»Nicht weit von hier.«
»Bring mich dorthin.«
Jack zögerte. Es war eine feste Regel für ihn, nie jemanden, den er nicht seit langer Zeit kannte, wissen zu lassen, wo er wohnte. Aber sie streichelte wieder seine Handfläche.
»Jetzt?«
»Ja.«
»Einverstanden.«
6
Denn sicher ist der Tod für die Geborenen
Und sicher ist die Geburt für die Toten
Daher gräme dich nie
Über das Unvermeidliche
Kusum hob den Kopf vom Studium der Bhagavad Gita. Da war es wieder. Das Geräusch von unten. Er hörte es trotz des dumpfen Grollens der Stadt auf der anderen Seite des Docks, der Stadt, die niemals schläft, er hörte es trotz der Geräusche des Hafens bei Nacht, trotz des Knarrens und Ächzens des Schiffs, das von der Flut umspült wurde, die die Trossen und Taue spannte, die den Frachter festmachten. Kusum schloss das Buch und ging zur Kabinentür. Es war zu früh. Die Mutter konnte die Spur noch nicht aufgenommen haben.
Er ging hinaus und stand auf dem schmalen Deck, dass sich um die Decksaufbauten herumzog. Die Kabinen der Offiziere und der Mannschaften, die Kombüse, das Steuerhaus und der Schornstein befanden sich alle hier im Heck. Von hier aus konnte er das ganze Hauptdeck überblicken, eine glatte Oberfläche, die nur von den beiden Luken der Laderäume unterbrochen wurde und von den vier Kränen der Ladebrücke dazwischen. Sein Schiff. Ein gutes Schiff, wenn auch alt. Für einen Frachter ziemlich klein – gerade mal 2500 Bruttoregistertonnen, siebzig Meter lang, zehn Meter breit. Sie war rostig und verbeult, aber sie lag gut im Wasser. Sie fuhr unter liberianischer Flagge.
Kusum hatte sie vor sechs Monaten hierher übersetzen lassen. Auf dem Weg von London nach New York hatte sie damals keine Fracht gehabt und nur einen zwanzig Meter langen geschlossenen Kahn in hundert Meter Abstand hinter sich hergezogen. Das Tau, das den Kahn mit dem Schiff verband, hatte sich am Tag der Einfahrt in den New Yorker Hafen gelöst. Am nächsten Tag hatte man den Kahn drei Kilometer vor der Küste treibend gefunden. Leer. Kusum hatte ihn an ein Verschrottungsunternehmen verkauft. Die US-Zollbehörden hatten sich die leeren Frachträume angesehen und dem Schiff das Anlegen gestattet. Kusum hatte einen Liegeplatz in einer verlassenen Gegend oberhalb vom Pier 97 an der West Side gefunden, wo kaum noch Betrieb herrschte. Das Schiff lag mit dem Bug nach vorn am Kai. An der Steuerbordseite zog sich ein morscher Pier entlang. Die Mannschaft war ausgezahlt und abgemustert worden. Seitdem war Kusum das einzige menschliche Wesen an Bord.
Das kratzende Geräusch erklang erneut. Hartnäckiger diesmal. Kusum ging nach unten. Das Geräusch wurde lauter, je näher er den unteren Decks kam. Gegenüber dem Maschinenraum kam er an ein wasserdichtes Schott und blieb stehen.
Die Mutter wollte raus. Sie hatte begonnen, mit den Klauen an der gegenüberliegenden Seite des Schotts zu kratzen, und sie würde damit weitermachen, bis sie herausgelassen wurde. Kusum stand da und hörte eine Weile zu. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Er kannte das Geräusch sehr gut: langes, zermürbendes Scharren in regelmäßigem Rhythmus. Sie zeigte alle Anzeichen dafür, die sie die Spur aufgenommen hatte. Sie war zum Jagen bereit.
Und das verwirrte ihn. Es war zu früh. Die Pralinen konnten noch nicht
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