Widersacher-Zyklus 02 - Die Gruft
eingetroffen sein. Er wusste genau, wann sie in London abgeschickt worden waren – er hatte eine telegrafische Bestätigung erhalten –, und sie konnten frühestens morgen zugestellt werden.
Konnte es eine von den präparierten Fuselflaschen sein, die er in den vergangenen sechs Monaten an Penner verschenkt hatte? Die Obdachlosen hatten die Nahrungskette des Nests gesichert und gutes Übungsmaterial abgegeben, während sie größer wurden und das Jagen lernten. Aber er bezweifelte, dass von diesem präparierten Branntwein noch etwas übrig war – diese Unberührbaren leerten so eine Flasche meist wenige Stunden, nachdem sie sie erhalten hatten.
Aber die Mutter ließ sich nicht täuschen. Sie hatte eine Spur gewittert und wollte ihr folgen. Eigentlich hatte er geplant, dass Training der Intelligenteren fortzusetzen, die er als Schiffscrew anlernte – in den sechs Monaten seit ihrer Ankunft in New York hatten sie bereits gelernt, wie man die Seile bediente und den Befehlen aus dem Maschinenraum gehorchte –, aber die Jagd hatte Vorrang. Kusum drehte an dem Rad, das das Schott anhob, und stand dann hinter der Luke, als sie sich öffnete. Die Mutter trat hinaus, ein zweieinhalb Meter großer menschenähnlicher Schatten. In dem trüben Licht wirkte sie gleichzeitig geschmeidig und doch massig. Eines der Jungen, einen halben Meter kleiner, aber fast ebenso massig, folgte ihr auf dem Fuße. Und dann ein zweites. Ohne jede Vorwarnung wirbelte die Mutter herum und peitschte mit ihrer Klaue durch die Luft, einen Fingerbreit von den Augen des zweiten Jungen entfernt. Es zog sich in den Laderaum zurück. Kusum schloss die Luke und drehte an dem Rad. Er spürte, wie die schwach gelblich glühenden Augen der Mutter über ihn hinwegglitten, ohne ihn zu sehen, bevor sie sich eilig umdrehte, ihren heranwachsenden Nachwuchs die Treppe hinaufgeleitete und in der Nacht verschwand.
Genauso sollte es sein. Die Rakoshi mussten lernen, wie man der Witterung folgte, wie man so das vorbestimmte Opfer fand und wie man es ins Nest brachte, um es mit den anderen zu teilen. Die Mutter hatte es ihnen einem nach dem anderen beigebracht. So war es schon immer gewesen. So würde es auch weiterhin sein.
Die Witterung musste von den Pralinen kommen. Er konnte sich keine andere Erklärung vorstellen. Der Gedanke versetzte ihn in Aufregung. Heute Nacht würde er der Erfüllung des Schwurs einen Schritt näher kommen. Und dann konnte er nach Indien zurückkehren.
Auf dem Weg zurück zum Oberdeck blickte Kusum wieder über das Schiff, aber diesmal hob sich sein Blick und erfasste auch das, was vor ihm lag. Die Nacht zeigte sich als ausgezeichnete Visagistin für diese Stadt am Rande dieses reichen, aufgedonnerten, gedankenlosen Landes. Sie überdeckte die Verkommenheit des Werftgeländes, den Müll, der sich unter der West-Side-Highway ansammelte, den Abfall, der im Hudson trieb, die gesichtslosen Warenhäuser und den menschlichen Abschaum, der dort ein und aus wuselte. Über all dem erhoben sich die oberen Schichten von Manhattan, ignorierten all das und produzierten eine atemberaubende Lichterkulisse wie Goldmünzen auf schwarzem Samt.
Dieser Anblick ließ ihn immer wieder innehalten und zuschauen. Es war so vollkommen anderes als sein Indien. Mutter Indien könnte die Reichtümer dieses Landes sehr gut gebrauchen. Sein Volk würde sie sinnvoll nutzen. Sie wussten sie zweifellos besser zu schätzen als diese armseligen Amerikaner, die mit materiellen Gütern so reich gesegnet waren, denen es aber so ungemein an Geist und an inneren Werten mangelte. Ihr Chrom und ihr Tand, ihr kurzsichtiges Streben nach »Spaß« und »Erfahrungen« und »Selbstfindung«. Nur eine Kultur wie die ihre konnte so ein architektonisches Wunderwerk wie diese Stadt erbauen und sie dann als große Frucht titulieren. Sie verdienten dieses Land nicht. Sie waren wie eine Horde Kinder, die man frei auf dem Basar in Kalkutta herumtoben ließ.
Der Gedanke an Kalkutta erfüllte ihn mit Heimweh.
Heute Nacht und dann noch eine.
Noch zwei Todesfälle und er war von seinem Schwur entbunden.
Kusum kehrte in seine Kajüte zu der Lektüre des Bhagavad Gita zurück.
7
»Ich glaube, ich bin kamasutriert.«
»Ich glaube nicht, dass es so ein Wort gibt.«
»Jetzt schon.«
Jack lag auf dem Rücken und fühlte sich losgelöst von seinem Körper. Er war taub vom Scheitel bis zur Sohle. Jeder Nervenstrang und jeder Muskel war am Ende seiner Kräfte und hielt nur gerade eben
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