Widersacher-Zyklus 02 - Die Gruft
Unabhängigkeit gewesen – er wollte alle äußeren Zwänge in seinem Leben auf das äußerste Minimum beschränken. Aber Ehre – Ehre war ein innerer Zwang. Ihm war gar nicht klar gewesen, welche Rolle dies bisher in seinem Leben gespielt hatte.
Kolabati setzte ihre Hand wieder in Bewegung und jeder Gedanke an Ehre versank in den Wellen der Lust, die über ihn hinwegbrandeten. Es tat gut, wieder erregt zu sein.
Seit Gia ihn verlassen hatte, hatte er wie ein Mönch gelebt. Nicht dass er Sex bewusst vermieden hätte – er hatte einfach aufgehört, daran zu denken. Es hatte ein paar Wochen gedauert, bis ihm überhaupt aufgefallen war, was mit ihm passiert war. Er hatte gelesen, dass sei ein Symptom einer Depression. Vielleicht. Was auch immer der Grund war, diese Nacht wog jede wie lang auch immer anhaltende Form der Enthaltsamkeit wieder auf.
Ihre Hand arbeitete langsam an ihm und führte zu Reaktionen, mit denen er absolut nicht mehr gerechnet hatte. Er wollte sich gerade auf sie rollen, als er den ersten Hauch des Geruchs wahrnahm.
Was, zum Teufel, ist das?
Es roch, als sei eine Taube in die Klimaanlage geklettert und hätte dort ein faules Ei gelegt. Oder war da verendet.
Kolabati erstarrte neben ihm. Er wusste nicht, ob sie es auch gerochen hatte oder ob sie erschreckt worden war. Ihm schien, als flüstere sie etwas zwischen zusammengebissenen Zähnen, das sich wie »Rakosh« anhörte. Sie rollte sich auf ihn und klammerte sich an ihn wie ein ertrinkender Seemann an die rettende Planke.
Eine namenlose Furcht erfasste Jack. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht, aber was das war, entzog sich ihm. Er lauschte nach einem ungewohnten Geräusch, aber alles, was er hörte, war das sanfte Summen der Klimaanlagen in seinen drei Zimmern. Er streckte die Hand nach der 9 mm Glock aus, die er unter der Matratze aufbewahrte, aber Kolabati klammerte sich nur noch stärker an ihn.
»Nicht bewegen«, flüsterte sie so leise, dass er sie kaum verstehen konnte. »Bleib unter mir liegen und sag kein Wort.«
Jack öffnete den Mund, um zu antworten, aber sie verschloss seine Lippen mit den ihren. Der Druck ihrer nackten Brüste an seiner Brust, ihre Schenkel an seinen, die Kühle ihrer Halskette, die auf ihn herabbaumelte, die Liebkosungen ihrer Hände – alles half, den Gestank zu verdrängen.
Und doch war da eine Gezwungenheit in ihrem Verhalten, die Jack daran hinderte, sich seinen Empfindungen hinzugeben. Seine Augen wanderten zum Fenster, zur Tür, zum Flur, der am dunklen Fernsehzimmer entlang zur Wohnungstür führte, dann wieder zum Fenster. Es gab keinen wirklichen Grund dafür, aber etwas in ihm erwartete, dass jemand – eine Person oder ein Tier – durch die Tür kam. Er wusste, das war unmöglich – die Wohnungstür war verriegelt, die Fenster waren im dritten Stockwerk. Es war verrückt. Aber das Gefühl ließ sich nicht unterdrücken.
Es blieb bestehen.
Er wusste nicht, wie lange er da angespannt und verkrampft unter Kolabati lag und sich nach dem beruhigenden Gefühl einer Waffe in seiner Hand sehnte. Es kam ihm wie die halbe Nacht vor.
Nichts passierte. Schließlich verzog sich der Geruch. Und mit ihm das Gefühl, als sei da noch jemand. Jack begann schließlich, sich zu entspannen und auf Kolabati zu reagieren.
Aber die hatte plötzlich andere Pläne. Sie sprang aus dem Bett und ging zu ihren Kleidern im Vorzimmer. Jack folgte ihr und sah zu, wie sie mit hastigen, fast hektischen Bewegungen in ihre Unterwäsche schlüpfte.
»Was ist los?«
»Ich muss nach Hause.«
»Zurück nach Washington?« Das ging nicht. Noch nicht jetzt. Sie war viel zu faszinierend.
»Nein. In die Wohnung meines Bruders. Ich wohne bei ihm.«
»Ich verstehe nicht. Habe ich irgendetwas …?«
Kolabati beugte sich zu ihm herüber und küsste ihn. »Nein, nichts, was du getan hast. Etwas, das er getan hat.«
»Und warum diese Eile?«
»Ich muss augenblicklich mit ihm sprechen.«
Sie ließ ihr Kleid über den Kopf gleiten und schlüpfte in ihre Schuhe. Sie drehte sich um, um zu gehen, aber die Wohnungstür ließ sich nicht öffnen.
»Wie funktioniert das?«
Jack drehte den Schalter, der die vier Bolzen löste, und zog ihr die Tür auf.
»Warte, bis ich mich angezogen habe, dann rufe ich dir ein Taxi.«
»Ich habe keine Zeit zum Warten. Und ich kann genauso gut mit dem Arm in der Luft herumwedeln wie jeder andere auch.«
»Kommst du wieder?« Die Antwort war ihm im Augenblick sehr wichtig. Er wusste nicht, warum. Er
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