Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
Chloroformdosis konnte zu Leberschäden und eventuell sogar zu einem Atemstillstand führen. Grace hatte die Dosis so bemessen, dass der Schmerz ausgeschaltet und die Muskeln relaxiert waren, damit sie tun konnte, was getan werden musste.
»Carol?«, sagte sie und achtete auf eine Reaktion. Nichts passierte. Sie strich mit den Fingerspitzen über ihre Augenlieder, aber der Blinzelreflex blieb aus.
Gut. Sie war betäubt.
Sie strich das Haar aus Carols nass geschwitzter Stirn und sah ihr zwischen den halb geschlossenen Lidern hindurch in die Augen.
»Es wird alles wieder gut«, flüsterte sie. »Du musst mir glauben, was ich dir sage, Liebes. Das Kind des Teufels in dir wird nicht mehr da sein, aber dir wird es danach wieder gut gehen.«
Sie richtete sich auf und wandte sich an die Frauen. »Ihr müsst sie nicht mehr festhalten, aber bleibt für alle Fälle da stehen.«
Sie wollte verhindern, dass Carol wieder zu Bewusstsein kam, vom Tisch rollte und sich dabei verletzte. Sie sah, wie die Frauen sie losließen und bemerkte die blauroten Stellen, wo sie sie festgehalten hatten, während sie sich wehrte. Jeder blaue Fleck versetzte ihr einen Stich.
Sie deutete zu den beiden Frauen an Carols Beinen.
»Zieht sie aus.«
Sie zögerten einen Augenblick und sahen sich an – Grace spürte, dass dieser Albtraum ihnen genauso unangenehm war wie ihr selbst.
»Nur alles, was unterhalb der Taille ist«, drängte Grace sie. »Sie kann das Kleid anbehalten.«
Als die beiden Frauen begannen, den Saum von Carols Sommerkleid hochzuschieben, trat Grace zur Küchentür und schloss sie. Dadurch wurden die Geräusche der Gebete, die im Salon gesprochen wurden, ausgefiltert. Aber das war nicht der Grund. Auch wenn es hier um eine heilige Aufgabe ging, würde sie die Blöße ihrer Nichte nicht einmal versehentlich einen der männlichen Auserwählten sehen lassen.
Die Frauen zogen den Saum des Kleides bis zu ihrem Nacken hoch und klemmten den Stoff unter ihr ein, dann streiften sie den hellbraunen Baumwollslip bis zu ihren Knöcheln hinunter und enthüllten ein Gewirr hellbraunen Schamhaars. Eine Binde lag über der Vagina. Auch die wurde entfernt, zeigte aber keine Blutspuren.
Grace starrte wehmütig die unbeschmutzte Binde an.
Hättest du das Baby doch vor zwei Tagen verloren, dann wäre das hier alles nicht nötig gewesen.
Sie zog die Chirurgenhandschuhe zurecht und legte die sterilen Instrumente auf den sterilisierten Verpackungen bereit. Sie zeigte den beiden Frauen, die neben Carols Beinen standen, wie die positioniert werden mussten – jedes musste hinter dem Knie gefasst und nach oben und nach hinten gebogen werden bis die Oberseite des Schenkels beinahe den Bauch berührte, und dann ein wenig zur Seite gedreht und so festgehalten werden.
Die Steinschnittlage.
Grace wandte einen Moment lang den Blick von Carols entblößtem Damm ab. Es schmerzte sie, sie so hilflos und verletzlich zu sehen. Aber sie stählte sich durch den Gedanken, dass dadurch auch der Antichrist verletzlich war. Das war alles, was …
Etwas bewegte sich auf dem Boden zu ihren Füßen. Grace sah nach unten und unterdrückte einen Aufschrei. Ein Kleinkind, ein nackter Säugling, krabbelte vom Tisch her auf sie zu. Er ergriff ihr Bein und zog sich daran hoch, bis er stand. Sie konnte sehen, dass das Baby ein Junge war. Er sah mit großen, unschuldigen, blauen Augen zu ihr auf.
»Tu es nicht«, sagte das Kind mit der Stimme eines Fünfjährigen. »Bitte töte nicht noch ein unschuldiges Baby!«
Grace biss sich auf die Unterlippe, um nicht loszuschreien. Das war wohl das, vor dem Mr Veilleur sie gewarnt hatte. Ihre schlimmsten Ängste, ihre tiefsten Schuldgefühle. Sie wandte den Blick ab.
Ein weiteres Kleinkind, ein Mädchen, saß auf Carols Bauch und musterte Grace mit einem anklagenden Ausdruck in dem pausbäckigen Gesicht. Sie sprach mit der gleichen Stimme.
»Hast du nicht schon genug von uns ermordet? Musst du noch ein weiteres unschuldiges Leben der langen Liste deiner Opfer hinzufügen?«
Grace schloss die Augen und spürte, wie sich der Raum um sie zu drehen begann.
»Du kannst dich nicht vor uns verstecken«, fuhr die Stimme fort und wurde dabei lauter. »Wir sind immer bei dir. Überall, wo du hingehst, da sind auch wir und beobachten dich. Öffne deine Augen, Grace Nevins. Meine Freunde sind alle hier. Öffne deine Augen und sieh, was du mit ihnen gemacht hast!«
Grace musste hinsehen. Sie öffnete ihre Augen für einen
Weitere Kostenlose Bücher