Widersacher-Zyklus 05 - Nightworld
dachte Glaeken. Und sicherlich auch eitel. Aber das war ihr gutes Recht. Er ließ ihren Arm los und ergriff ihre Hand. Sie fühlte sich kalt und feucht an und zitterte.
»Ich weiß einen Ort, wo Sie allein und ungestört sein können. Wo niemand Sie sehen wird. Kommen Sie!«
Als er sie durch die Tür führen wollte, trat Jack vor.
»Warte.«
Zum ersten Mal seit Glaeken ihn kennengelernt hatte, wirkte Jack verlegen. Seine katzenhafte Eleganz war verschwunden. Die Kette lag in seiner Hand wie ein Bleigewicht. Ihm schienen die Worte zu fehlen.
»Bitte, Jack«, sagte Kolabati. »Ich habe nicht viel Zeit.«
»Ich weiß. Ich weiß. Ich wollte dir nur sagen, dass ich in den letzten Jahren wirklich furchtbare Dinge über dich gedacht habe, aber was du jetzt tust … dazu braucht man Mut. Mehr Mut, als ich vermutlich aufbringen würde, wäre die Situation umgekehrt. Ich glaube, du bist die tapferste Frau, die ich kenne.« Er griff nach ihrer Hand und hob sie an die Lippen. »Ich … Wir alle stehen in deiner Schuld. Und wir werden dich nicht vergessen.«
Kolabati nickte langsam. »Ich weiß, du liebst mich nicht, also muss ich mich wohl damit begnügen.« Sie streckte sich und küsste ihn auf die Wange. »Leb wohl, Jack.«
»Ja.« Jack war ergriffen. »Leb wohl.«
Glaeken brachte Kolabati in Carols Wohnung – ihre ehemalige Wohnung, die sie nicht wieder betreten würde. Er brachte sie zum Schlafzimmer, schaltete aber das Licht nicht an.
»Hier ist es ruhig. Es ist sicher und dunkel. Niemand wird Sie belästigen.«
Er hörte die Federn quietschen, als sie sich auf das Bett setzte.
»Bleiben Sie bei mir?«, fragte sie mit zaghafter Stimme.
»Ich dachte …?«
»Das war Jack. Mit ihm hier wäre es eine sehr unangenehme Situation gewesen. Aber Sie sind anders. Sie sind weit älter als ich. Ich glaube, Sie verstehen das.«
Glaeken fand einen Stuhl und zog ihn zum Bett hinüber.
»Ich verstehe.«
Er empfand genau wie Jack. Das war eine wirklich tapfere Frau. Er nahm wieder ihre Hand, wie er es schon oben getan hatte.
»Reden Sie mit mir. Erzählen Sie mir vom Indien Ihrer Kindheit – von dem Tempel, den Rakoshi. Erzählen Sie mir, wie Sie Ihre Tage verbracht haben, bevor Sie anfingen, die Kette zu tragen.«
»Es kommt mir vor, als sei ich nie jung gewesen.«
Glaeken seufzte. »Ich weiß. Aber erzählen Sie mir, was Ihnen einfällt, und dann erzähle ich Ihnen aus meiner Jugend. Von dem wenigen, woran ich mich noch erinnern kann.«
Und so erzählte Kolabati von den Zeiten, als sie noch ein Mädchen war, von ihren Eltern, von ihrer Furcht vor den fleischfressenden Dämonen, die in den Tunneln unter dem Tempel-in-den-Bergen lebten. Aber während sie erzählte, wurde ihre Stimme heiserer und brüchig. Die Luft in dem Zimmer wurde feucht und ranzig, als ihr Körper die lebenserhaltenden Flüssigkeiten an die Welt zurückgab. Ihre Stimme wurde schwächer und schwächer, bis es ihr unendliche Mühe zu bereiten schien, noch zu sprechen. Schließlich …
»Ich bin so müde«, stieß sie keuchend hervor.
»Legen Sie sich hin.«
Er half ihr in eine Ruhelage, indem er sie an den Schultern fasste und ihre Knie hob. Ihr Fleisch unter den Kleidern fühlte sich faltig an, kaum mehr als Haut über den Knochen.
»Mir ist kalt.«
Er deckte sie zu.
»Ich habe solche Angst. Bitte gehen Sie nicht weg.«
»Das werde ich nicht.«
»Erst, wenn es ganz vorbei ist. Versprechen Sie es?«
»Ich verspreche es.«
Sie sprach danach nicht mehr. Nach einer Weile wurde ihre Atmung abgehackt und hastig und schwoll zu einem rasselnden Crescendo an. Ihre knochigen Finger drückten Glaekens Hand in einer letzten Zuckung –
Und wurden dann schlaff.
Stille.
Kolabati war nicht mehr.
Glaeken ließ ihre Hand los und trat in den Korridor vor der Wohnung. Jack saß im Schneidersitz neben der Tür. Er sah auf.
»Ist sie …?«
Glaeken nickte und Jack senkte den Kopf.
»Holen Sie beide Halsketten und die Schwertfragmente und machen Sie sich bereit, beim ersten Tageslicht nach Monroe zu fahren.«
Jack schoss hoch. »Monroe? Halt, stopp! Ich fahre zu Abes Bauernhof raus, Gia und Vicky …«
»… wird es viel besser gehen, wenn Sie die Ketten und die Metallteile zu einer Gemeinschaft von Schraten in Monroe bringen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht tun. Ich habe es versprochen. Und sie haben Angst. Ich höre das in ihren Stimmen. Sie brauchen mich.«
Glaeken lehnte sich schwer gegen die Wand. Nein. Das durfte jetzt nicht
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