Wie der Vater so der Tod
Prickeln in den Fingerspitzen. Ich fange sofort an, noch bevor es läutet. Vielleicht mogle ich damit, denn wir sollen nur zehn Minuten schreiben, aber diesmal will ich nicht warten.
Die Person, die ich am meisten bewundere, ist mein großer Bruder Matt. Er brachte sich um, aber das ist nicht der Grund, warum ich ihn bewundere. Ich bin viel eher wütend auf ihn. Aber die anderen Fehler, die er hatte, und es waren nicht viele, habe ich ihm alle verziehen.
Matt und ich waren anderthalb Jahre auseinander. Als kleine Kinder waren wir unzertrennlich. Wir spielten mit fast allem gemeinsam: mit Lego, Einkaufswagen, Hot Wheels, Knetmasse, Plastiksoldaten und Springseilen.
Als wir älter wurden, waren Matt und ich so unterschiedlich, wie man nur sein kann. Ich bekam gute Noten und er schlechte (bis auf Spanisch, da war auch er gut). Wenn mein Vater mich bat, etwas zu erledigen, kümmerte ich mich sofort darum. Wenn er Matt bat, etwas zu erledigen, kümmerte er sich nur darum, wenn er nichts Besseres zu tun hatte. Ich wäre lieber zum Zahnarzt gegangen als zum Sport. Matt war verrückt nach Fußball. In einem Vergnügungspark besteht meine Vorstellung von gefährlichem Abenteuer darin, mit dem Riesenrad zu fahren. Matt war nicht zufrieden, wenn er nicht mindestens fünfzig Prozent der Zeit mit dem Kopf nach unten verbrachte. Wir waren sehr unterschiedlich, aber es war eine schöne Art von Unterschiedlichkeit, und sie hinderte uns nie daran, uns nahe zu sein.
Es läutet, und ich höre für eine Sekunde mit dem Schreiben auf. Eigentlich habe ich noch gar nicht gesagt, warum ich Matt bewundere. Andererseits, Mrs. Monroe betont immer wieder, dass wir uns nicht sklavisch ans Thema halten müssen. Wichtig sei vor allem, dass der Kugelschreiber in Bewegung bleibt. Trotzdem versuche ich, das mit der Bewunderung hinzukriegen.
Ich wünsche mir, ich könnte wie Matt Klavier spielen - er war ein echtes Talent.
Matt liebte mich. Er umarmte mich. Er spielte mit mir. Er half mir hoch, wenn ich hinfiel, mit fünf ebenso wie mit fünfzehn. Er war mein großer Bruder. Ich bewunderte ihn.
Matt war immer für alle da, die ihn brauchten. Das habe ich am meisten an ihm bewundert.
Irgendwie war niemand von uns da an dem Tag, als er uns am meisten brauchte.
Ich lege den Kugelschreiber hin. Ich habe die Seite nicht gefüllt, und die Zeit ist noch nicht um, aber ich habe alles gesagt, was zu sagen war.
»Bei euren Projekten muss es sich um ein wichtiges Ereignis der Weltgeschichte handeln. Ihr könnt allein arbeiten oder mit einem Partner. Ich gebe euch zwei Monate Zeit. Welches Thema ihr auch wählt, wartet nicht bis zum letzten Moment!«
Alle in der Geschichtsklasse stöhnen, mit Ausnahme von mir. Ich höre gar nicht richtig zu und mache mir auch keine Notizen, denn das betrifft mich alles nicht mehr. Mr. Robertson leiert seine Predigt herunter, in der es um akademische Integrität und die richtige Benennung von Quellen geht.
»Ihr solltet euch alles aufschreiben«, sagt Robertson und runzelt die Stirn, womit er mich und einige andere Bummelanten meint. Es ist zwanzig vor zwölf. In fünfzehn Minuten bin ich hier raus. Für immer.
Ich nehme einen Bleistift und ein Blatt Papier und kritzle ein paar Zeilen darauf, damit es so aussieht, als hätte ich aufgepasst.
Hör nicht auf dein Herz!
Du kannst Dad nicht trauen.
Sag niemandem was!
Dann hole ich Cujo (ein Buch von Stephen King) aus meinem Rucksack und öffne es auf dem Schoß. Den Bleistift behalte ich in der Hand, damit es so aussieht, als würde ich mir Notizen machen. Ich beginne zu lesen, und der Geschichtsunterricht verblasst immer mehr, bis ich ganz in die Geschichte eintauche. Die Spannung steigt. Ich halte den Atem an und fürchte, was mich auf der nächsten Seite erwartet.
Peng!
Ich zucke so heftig zusammen, dass ich fast die Wasserflasche vom Tisch hinunterstoße. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Die Tür! Wer ist gerade hereingekommen? Ich wage nicht hinzusehen. Ist mein Vater gekommen, um mich aus der Klasse zu holen? Hat er herausgefunden, dass Mutter und ich verschwinden wollen?
Ich zerknülle das Blatt vor mir. Was soll ich damit machen? Es wegwerfen?
Keine Zeit. Ich stopfe es in den Rucksack und bete, dass mein Vater es nicht findet.
Ich stelle mir vor, wie Dad Mr. Robertson erklärt, dass ich einen Termin beim Zahnarzt habe, wie er mich am Kragen packt und durch den Flur zerrt. Sitzt jemand an den Überwachungsmonitoren der Sicherheitskameras?
»Hallo«, sagt
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