Wie die Iren die Zivilisation retteten
Iren aber hatten, als Patrick seine Mission begann, diesen Punkt 117
noch nicht erreicht und opferten ihren Göttern noch immer Menschen.
Sie opferten ihren Kriegsgöttern Kriegsgefangene und ihren Erntegöttern Neugeborene. Da sie glaubten, der Kopf sei der Wohnort der
Seele, stellten sie die Köpfe ihrer Feinde stolz in ihren Tempeln und auf ihren Palisaden aus; sie hängten sie sich sogar als Schmuck an den Gürtel und verwendeten sie bei Siegesfeiern als Fußbälle; Schädel wurden gern als zeremonielle Trinkgefäße benutzt. Sie modellierten auch Köpfe – sowohl Schrumpfköpfe als auch riesige Götterköpfe –, und ein beliebtes Motiv war ein dreigesichtiger Götterkopf, denn die Drei war ihre magische Zahl, und Götter und Göttinnen manifestier-ten sich oft als Drei.
Warum tun Menschen so etwas? Den psychologischen Mechanis-
mus zu erkennen ist nicht schwer; es wird wohl kaum einen Leser
geben – auch nicht den überzeugtesten Atheisten –, der nicht schon einmal ein altmodisches quid pro quo-Gebet gesprochen hätte: Wenn du mich dieses Examen bestehen läßt, trete ich wieder in die Kirche ein; wenn du machst, daß meine Frau nichts von meinem Seiten-sprung erfährt, spende ich meine nächste Prämie der Wohlfahrt. Die Theologie – die Vorstellung von Gott –, die hinter dieser Bitte steht, ist die von einem launischen Trickser, der sich schmeicheln und manipu-lieren läßt. Es läßt sich leicht nachvollziehen, wie ein Gottesglaube, wenn er stark und primitiv genug ist, zu Menschenopfern führen
kann: Hier, nimm ihn, nicht mich! Der ausdruckslose Götterkopf fordert Blut. Laß es nicht meins sein! Ich bin nicht sicher, ob nicht einige der unerklärlichsten Morde unserer Zeit – die Opfer von Jeffrey Dahmer in Milwaukee oder das kleine Kind, das in Liverpool von zwei anderen Kindern getötet wurde – am besten mit diesem prähistorischen
Impuls erklärt werden könnten. Mit Sicherheit sind solch entsetzliche Kriegsverbrechen, wie sie in den blutigen Tragödien von Bosnien und Ruanda begangen wurden, menschliche Antworten auf diese unterir-dischen Einflüsterungen. Sehen wir uns die Gesichter der keltischen Götter an, können wir nicht daran zweifeln, daß die meisten von
ihnen nur mit Blut zu befrieden waren.
Aber wenn wir glauben, daß alle Opfer – auch Menschenopfer –
sich auf dieses Grundmotiv reduzieren lassen, machen wir uns im
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Hinblick auf die komplexe Geschichte religiöser Gefühle etwas vor.
Unterschiedliche Zivilisationen haben unterschiedliche Gedanken
gehabt – beispielsweise dachten die Griechen, der Kosmos sei ewiger Natur, während wir annehmen, daß er einen Anfang hatte; die jüdischen Patriarchen glaubten nicht an eine Seele, für die Griechen
hingegen war das ein zentraler Begriff. Doch anders als das menschliche Denken hat sich das menschliche Gefühl – wie auch der menschliche Körper – überhaupt nicht verändert. Was die Iren fühlten, fühlen wir auch. Bei allen Schrecken des keltischen Kosmos, bei aller Blutrünstigkeit der keltischen Götter – keine menschliche Gesellschaft könnte lange Bestand haben, wenn sie das Opfer nur nach dem Muster der wilden Horde in King Kong verstünde und dem Monster verängstigte Schönheiten darböte.
Diese Karikatur wird durch die eindeutigen Beweise für Menschen-
opfer widerlegt, die in jüngster Vergangenheit ge- funden wurden: die prähistorischen Leichen aus Tolland, Grauballe und Borremose, die in den fünfziger Jahren in den dänischen Mooren gefunden wurden, sowie die noch eindeutigere Entdeckung in einem abgelegenen
englischen Moor. Die dänischen Körper könnten keltisch sein; der
englische – ein Mann, der 1984 im alten Torfmoor von Lindow Moss
südlich von Manchester entdeckt wurde – ist es auf jeden Fall, vielleicht ist er sogar irisch. Die Leichname sind aufgrund der chemischen Gegebenheiten in einem Torfmoor besonders gut erhalten. Die Haut
ist ledrig geworden, sonst aber intakt, so daß wir jedes physische Detail erkennen können, wie es im Leben war – sogar Lachfältchen
um die Augen. All diese Menschen sind geopfert worden, und ihre
Gesichter sind friedlich. Mit anderen Worten: Sie gingen alle gern, man könnte fast sagen, glücklich in ihren Opfertod – wie Isaak, der bis zuletzt an die Güte des opfernden Priesters glaubte und, was noch wichtiger war, an die Güte von Gottvater.
Wie die Religion in unserer Zeit muß sich auch der religiöse Impuls der Iren auf zwei sehr
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